Je länger Tage mit historischer Bedeutung zurück liegen, umso
mehr werden die Erinnerungen von Menschen, die sie noch selbst erlebten,
nicht von den Ereignissen bestimmt, die sie an diesem Tag tatsächlich
bewegten, sondern von denen die immer wieder aufs neue in das allgemeine
Bewusstsein gehoben werden. Und nur die wenigsten werden bereit sein,
zu bekennen, dass die jährliche Wiederkehr oder auch nur die Erwähnung
eines solchen Tages, bei ihnen Erinnerungen an Ereignisse wach ruft, die
ganz und gar nicht der Bedeutung dieses Tages angemessen scheinen. Weshalb
wohl auch Bernd Liesegang kaum bereit sein dürfte, zu bekennen, dass
der Rückblick auf den 9. November 1989 bei ihm weniger von dem allgemeinen
„Wahnsinn! Wahnsinn! Wahnsinn!“ bestimmt ist, als von der
Erinnerung an die besten Königsberger Klopse, die er jemals gegessen
hat, an seine bislang einzige Fahrt mit einem Paternoster, vor allem aber
von der Erinnerung an jene Frau, die ihm, mit einem zwischen Kinn und
angewinkelten Unterarmen eingeklemmten Stapel Aktenordner, gerade in dem
Augenblick in einer der sich im steten Gleichklang auf- oder abwärts
bewegenden, nach vorn offenen Kabinen eines Personenaufzugs dieser Art,
von unten her entgegen glitt, in dem er sich entschlossen hatte, mit einem
Sprung in die nächste der herannahenden, sowohl seine Scheu vor dessen
Benutzung, wie auch einen ihm von Kindesbeinen an zugewachsenen Hang zur
disziplinierten Befolgung geltender Anweisungen und Verordnungen zu überwinden.
Student des Fachbereichs Fotografie an der Kunsthochschule der DDR in
Berlin Weißensee hatte sich bezüglich seiner Diplomarbeit für
den Bereich Porträtfotografie entschieden und diese unter den Titel
„Die zweite Reihe“ gestellt. Wobei die Wahl dieses Titels
von der Überlegung ausgegangen war, damit am konfliktlosesten seine
eigenen Interessen mit den Interessen derer in Übereinstimmung bringen
zu können, von denen er abhängig war. Arbeiter- und Bauernportraits,
Jungaktivisten und Veteranen, Soldaten und fröhliche Frauen, wie
es ihm zunächst empfohlen worden war, wollte er nicht. Die erste
Reihe, denen er gern hinter die offiziellen Gesichter geleuchtet hätte,
konnte er als Illusion einordnen. An die würde man ihn nicht heran
lassen. Und Leute von der Straße, wie es ihm vorschwebte, da würde
bei der Beurteilung mehr über mögliche Fehldeutungen geredet
werden, als über die künstlerische Qualität. Porträts
von Leuten zum Beispiel, die sich mit Bäuchen brüsteten, denen
anzusehen war, dass sie nicht nur die Sattheit des Leibes repräsentierten
oder die Augen alter Frauen, die fragten: „So, und was war das nun,
das Leben?“, würden jedenfalls kaum Begeisterung auslösen.
Also hatte er sich für die zweite Reihe entschieden, die Stellvertreter
oder Stellvertreter der Stellvertreter. Die, die sich in ihrem tiefsten
Inneren als zurückgesetzt empfanden, denn sie machten die Arbeit
und bügelten die Schnitzer ihrer unfähigen Oberen aus. Aber
im Rampenlicht standen sie nie.
An die würde er herankommen, hatte er sich überlegt. Und das
Thema garantierte auch bei Zweifeln an der künstlerischen Qualität
einen Ausschlag des Pendels zur Plusseite hin. Außerdem würden
die Porträtierten sich vielleicht an ihn erinnern, wenn sie doch
einmal in die erste Reihe aufstiegen. Und dann würde er auch die
Verluste im Wesen sichtbar machen können, die ein solcher Aufstieg
mit sich brachte. Außerdem meinte er, wenn auf einer Portraitserie
zu erkennen wäre, dass von fünfzig stellvertretenden Stellvertretern
zweiundvierzig Gesichter haben, die nichts anderes zeigen, als gefällige
Glätte oder wachsame Selbstverleugnung, dann konnte das für
den, der fähig war, zu sehen, genauso eine Offenbarung sein, wie
wenn man im Gesicht eines jugendlichen Demonstranten, der das auf einem
hölzernen Tragegestell montierte, überdimensionale Porträt
des ersten Mannes des Staates schleppt, den Schmerz erkennen kann, den
er in der Schulter spürt. Und trotzdem würden diese fünfzig
Gesichter eher als Nachweis seiner während des Studiums erworbenen
Fähigkeiten akzeptiert werden, als Fotos dieser Art.
Seine Überlegungen, zeigte sich, waren richtig gewesen. Er bekam
eine Liste mit Namen, dazu die Telefonnummern der zuständigen Sekretärinnen,
um Termine vereinbaren zu können und war dann losgezogen: Bezirks-
und Kreisverwaltungen, Leitungsorgane der Gewerkschaft und der Partei,
und schließlich auch ein Haus, das so gelegen war, dass man aus
den Fenstern seines obersten Stockwerks, wie er vermutete, einen Blick
auf die nicht nur die Stadt und das Land, sondern auch die Welt teilende
Mauer und das dahinter liegende Gelände der mit Gras und Buschwerk
überdeckten Ruinenreste und Keller der ehemaligen Reichkanzlei Hitlers
haben müsse. Eine Vermutung allerdings, die immer noch Vermutung
hatte bleiben müssen, obwohl er nun schon mehrere Wochen in diesem
Haus ein- und ausgegangen war. Denn seinem Traum, diesen Blick, seiner
Symbolträchtigkeit wegen zu fotografieren, stand das Ritual entgegen,
dem er sich unterzuordnen hatte, sobald er dieses Haus betrat. Es lief
immer in der gleichen Weise ab. Er hatte seinen Personalausweis und die
von irgendeinem Hausmächtigen gegengezeichnete Bescheinigung vorzuweisen,
auf der erläutert wurde, zu welchem Zweck ihm zugestanden werde,
das Haus zu betreten. Ein Passierschein wurde ausgestellt, aus einem der
hinter der Wachstube gelegenen Räume ein Begleiter herbei beordert,
der ihn dann durch Treppenhäuser und Flure führte, in irgendeinem
Vorzimmer abgab und ihn von dort auch wieder abholte. Wobei es ihm unerfindlich
blieb, warum bei den dabei notwendigen Wanderungen auf und ab, meist die
Treppenhäuser genutzt wurden, selten einmal ein Fahrstuhl, niemals
jedoch der Paternoster. Wahrscheinlich ist die Erklärung dafür
ganz simpel. Dürften doch seine Begleiter, im Gegensatz zu ihm, eine
detaillierte Vorstellung von der Lage der Räumlichkeiten gehabt haben,
in denen er abzugeben war, weshalb sie dann auch den jeweils kürzesten
Weg wählten. Möglich ist jedoch auch, dass es ihm erschwert
werden sollte, sich diese Wege einzuprägen. Schien er doch mit seinem,
ihm über Schultern und Armen hängenden Gerätschaften hinreichend
verdächtig, aufgenommene oder ihm zugänglich gewordene Informationen
möglicherweise für Zwecke zu nutzen, die mit der in seiner Zutrittserlaubnisbescheinigung
aufgeführten Absicht nicht in Übereinstimmung standen. War doch
schon der dort als Grund des Besuchs aufgeführte Begriff schwammig
genug, um nicht bei Leuten die Alarmglocken klingeln zu lassen, zu deren
Aufgaben es gehörte, sich gegenüber allem und jedem ein gehöriges
Maß an Misstrauen zu wahren. „Porträtfotografie“.
So hatten ihm also die Aufenthalte in diesem Haus bis zu diesem 9. November
eigentlich nicht wirklich etwas gebracht. Er hatte auch hier hauptsächlich
Gesichtern gegenüber gesessen, denen kaum etwas anderes anzusehen
war, als die Mühe, nichts von dem erkennen zu lassen, was sich hinter
ihnen befand. Und so war er sogar schon entschlossen gewesen, das Thema
zu wechseln, zumal die Verhältnisse, die er bei dessen Wahl berücksichtigen
zu müssen gemeint hatte, sich offensichtlich zu wandeln begannen.
In Leipzig waren Leute durch die Straßen gelaufen und hatten gerufen:
„Wir sind das Volk“. Auf dem Alexanderplatz hatte es eine
Kundgebung gegeben, auf der nicht die üblichen Fahnen geschwenkt
und üblichen Reden geredet worden waren. Wenn sich die Leute abends
vor die Fernseher setzten, schalteten sie nicht mehr gleich auf ARD und
ZDF um. Und wenn gezeigt wurde, wie Krenz und Schabowski sich unter die
Massen mischten und etwas von Offenheit und Demokratie faselten, lachte
man, als träten da Spejbel und Hurvinek auf und erklärten sich
gegenseitig die Welt.
Ob sich denn sein Thema nicht eigentlich überholt habe, hatte er
deshalb seinen Professor gefragt, aber der hatte: „Nein, nein“,
entgegnet. “Ich denke sogar, im Gegenteil. Wie heißt es doch
so schön? Die Letzten werden die Ersten sein. Und vielleicht haben
sie dann zufällige jemanden auf der Platte, der plötzlich ganz
oben steht. Machen Sie mal weiter. In Zeiten wie den jetzigen ist alles
möglich.“
Und so war er weiter mit seiner Kamera und dem Stativ zu den vereinbarten
Terminen in dieses Haus gepilgert, hatte Passierscheine übereicht
bekommen, war von Angehörigen des Wachdienstes zu Vorzimmern geleitet
worden, hatte gewartet, Kaffee getrunken, Kekse geknabbert und dann in
den jeweils vorgesehenen neunzig Minuten, Fotos von Gesichtern geschossen,
die sich alle zu gleichen schienen, ehe er wieder von einem Angehörigen
des Wachdienstes in Empfang genommen und zum Ausgang geleitet wurde.
Achtundvierzig solcher Porträts hatte er schon gefertigt und wusste,
sein Traum von dem Foto mit der sich entlang des Geländes zwischen
Potsdamer Platz und Reichstag hinziehenden Mauer, würde sich auch
bis zum fünfzigsten nicht erfüllen. Denn, einen der schweigsamen
Männer, die ihn durch Treppenhäuser und Gänge geleiteten
zu fragen, ob er mit ihm einmal bis zum obersten Stockwerk fahren könne,
schien ihm vollkommen aussichtslos. Und auch die Stellvertreter der Stellvertreter
würden wohl kaum Verständnis für ein solches Ansinnen haben.
Doch dann sagte der Neunundvierzigste, während er ihm zum Abschied
die Hand entgegen streckte: „Es tut mir leid, die Wache unten hat
gerade niemanden frei. Aber ich denke, Sie werden den Weg wohl auch allein
finden.“ Und seine Sekretärin ergänzte: „Am besten,
Sie nehmen den Paternoster“, ehe sie die von innen her gepolsterte
Tür, die außen nur einen Knauf aber keine Klinke hatte, hinter
ihm zuzog.
Und dann stand er, mit der über der Schulter hängenden Fototasche,
einem aufklappbaren Reflexionsschirm und seinem Stativ plötzlich
allein vor den Zugängen zu den auf ihn wie Baggerschaufeln wirkenden
Kabinen des Paternosters, deren stetiges Auf und Ab von einem Knarxen
und Knarren begleitet wurde, das sich wie ein genüssliches Malmen
knöcherner Kiefern anhörte und wusste, wenn er jetzt nicht den
Sprung in eine von ihnen wagen und bis zum obersten Stockwerk fahren würde,
würde er sich ein Leben lang als Feigling ansehen müssen, statt
möglicherweise ein sensationell symbolträchtiges Foto vorweisen
zu können, als mit der Kabine, die er dann für diesen Sprung
vorgesehen hatte, von unten her, die Frau mit dem zwischen Unterarmen
und Kinn eingeklemmten Stapel von Aktenordnern auf ihn zu geglitten kam,
was ihn zunächst veranlasste, seinen schon leicht angehobenen linken
Fuß wieder abzusetzen, um auf die nächste Kabine zu warten.
Aber die Frau trat, in der deutlichen Absicht, ihm Platz zum Zustieg einzuräumen,
einen Schritt halb links rückwärts in die Tiefe der Kabine hinein.
...
Und dann der mit seiner Suppe!
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