Coitus interruptus
Geschichten aus meinen beiden Deutschländern, 2003
     
Das lachende Brot

Das Brot lag im obersten Regal des Bäckerladens, und der Junge sah schon von der Tür aus, dass es lachte.
„Ich will das lachende“, sagte er deshalb, als er an der Reihe war und die Verkäuferin fragte verwundert: „Das da?“
„Ja“, bestätigte er und nickte eifrig.
„Na, ob das deiner Mutter recht sein wird?“
Doch der Junge war sich sicher: Er wollte dieses Brot.
Die Verkäuferin stieg auf eine Fußbank, um es erreichen zu können, und nun meinte auch die Frau, die hinter dem Jungen stand, dass er lieber ein anderes Brot nehmen solle.
„Daraus kann man doch keine ordentlichen Schnitten schneiden“, sagte sie.
Aber der Junge ließ sich nicht beirren. Er wollte genau dieses Brot und kein anderes.
Es hatte ein Auge und einen Mund, und wenn man genau hinsah, so konnte man oberhalb der Stelle, wo die Kruste wie ein nach oben gezogener lachender Mundwinkel aufgeplatzt war, einen kleinen runden Buckel erkennen. Eine Nase. Eine Clownsnase. Auch der Mund war ein Clownsmund. Und das Auge schien dem Jungen schelmisch zuzuzwinkern. So ein schönes lachendes Brot war das.
Doch die Verkäuferin hatte recht gehabt. Auch seine Mutter sah nur, dass man aus dem Brot keine ordentlichen Schnitten schneiden konnte. Und gerade an diesem Abend sollte Herr Hufenreuther zum Abendbrot bleiben.
„Wenn du einem schon mal helfen sollst!“, schimpfte die Mutter deshalb. Und der Junge musste noch einmal losgehen, um ein schönes glattes Brot zu kaufen.
Das kaufte er in der Halle, weil er sich vor der Verkäuferin im Bäckerladen schämte.
Aber das Hallenbrot war der Mutter zu hart.
„Das ist doch mindestens zwei Tage alt“, sagte sie ärgerlich und fuhr schließlich selbst mit dem Fahrrad los, um ein ordentliches Brot zu kaufen.
Beim Abendbrot erzählte sie Herrn Hufenreuther davon.
„Vor solche Probleme stellt er einen immerzu“, sagte sie, und dann, an den Jungen gewandt: „Nun sag mir bloß, was ich jetzt mit dem vielen Brot anfangen soll?“
„Ich nehme es mit in mein Zimmer“, antwortete er. „Da kann es an der Wand hängen.“
Er stellte sich das wirklich lustig vor, das lachende Brot an der Wand, so wie bei seiner Tante Doris die afrikanische Tanzmaske aus Gips.
Herr Hufenreuther aber fand das gar nicht lustig.
„Brot ist kein Spielzeug“, sagte er kauend. „Weißt du, wie viele Kinder auf der Welt verhungern, weil sie kein Brot haben? – Und du willst es an die Wand hängen. – Darüber denk mal nach!“
Der Junge schaute auf Herrn Hufenreuthers Kinnlade und dachte: ,Wenn er kaut, sieht er aus wie eine Giraffe.’ Weshalb er auch ein bisschen lächeln musste.
„Siehst du“, sagte deshalb die Mutter, „so ist er. – Du willst ihm etwas klarmachen, und er lacht dich aus. Es wird Zeit, dass er endlich wieder eine harte Hand zu spüren bekommt.“
Herr Hufenreuther versuchte darauf, mit der Zungenspitze irgendetwas aus einer Lücke zwischen seinen Zähnen zu entfernen, wobei er merkwürdig schmatzte.
Später musste der Junge zu Bett gehen. Er wusch sich ordentlich, putzte sich die Zähne, und nachdem er Herrn Hufenreuther mit einem wohlerzogenen Diener „Gute Nacht!“ gewünscht und der Mutter einen Kuss gegeben hatte, ging er in die Küche, holte das lachende Brot aus dem Schrank und nahm es mit ins Bett.
„Ja, wie eine Giraffe sieht er aus“, sagte er dabei und drückte seine Wange gegen die raue, aufgeplatzte Rinde, die wie ein großer lachender Mund aussah, ein Clownsmund.
Es kratzte, wie die Wangen des Vaters immer gekratzt hatten, wenn er manchmal am Sonntagmorgen zu ihm ins Bett gekommen war: „Rück mal zur Seite! – Aber nicht bewegen, damit es nicht zusammenbricht.“,
Aber den Vater gab es nicht mehr. Er war weit weggezogen, in eine andere Stadt, zu einer anderen Frau.
„Da hast du seine ewige Schmuserei“, hatte die Mutter damals gesagt. „Auf ist er und davon. Schert sich einen Dreck darum, ob du ihn liebst.“
Aber der Junge dachte trotzdem immer wieder daran, wie die Wangen des Vaters gekratzt hatten, wenn er zu ihm ins Bett gekrochen kam, und wie sie sich das Deckbett über den Kopf zogen, wenn die Mutter ins Zimmer schaute.
„Nichts als Dummheiten bringst du ihm bei“, schimpfte sie dann meistens. „Wenn das Bett zusammenbricht, sind wieder zweihundert Mark im Eimer.“
Und der Vater murmelte: „Hundertneunundneunzig!“
Am Morgen, als der Junge munter wurde, war das Brot aus seinem Bett verschwunden, aber Herr Hufenreuther saß am Frühstückstisch.
„Hör mal“, sagte er, „am Besten, du sagst Heinz zu mir. – Papa, das heben wir uns für später auf, wenn wir uns aneinander gewöhnt haben.“ Und die Mutter ergänzte: „Wir haben uns nämlich verlobt.“
Am Nachmittag, als ein Fußballspiel im Fernsehen übertragen wurde und Herr Hufenreuther der Mutter erklärte, was ein Foulstrafstoß sei, suchte der Junge das Brot.
Er fand es im Abwaschschrank neben dem Zwiebelkorb und dem Beutel mit den Kartoffeln. Es sah ganz unversehrt aus. Nur an einer Stelle, wo es gegen die Kartoffeln gestoßen war, war es ein bisschen schmutzig.
Der Junge wickelte es in ein Küchenhandtuch und trug es zurück in sein Zimmer. Dort versteckte er es in dem Karton mit den Kasperpuppen. Es passte gerade noch hinein.
Zwei Tage ließ er es dort. Dann aber, als Herr Hufenreuther wieder zum Abendbrot blieb, holte er es hervor, wickelte es aus dem Wischtuch und schlang ganz fest seine beiden Arme darum, als er im Bett lag. Er nahm sich vor, es die ganze Nacht so zu halten, und wenn jemand kommen würde, um es wegzunehmen, würde er in die Hand beißen, die sich danach ausstreckte. ...

     
     
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