Eine vollkommen skurrile Geschichte
Geschichten vom Essen, Trinken und anderen schönen Dingen
     

 

Ein vollkommen skurrile Geschichte

Sieghard Sellhorn saß sinnigerweise auf der Toilette, als ihn der Anruf erreichte: „Guten Tag! Mein Name ist Verena Wachenschwanz. Ich rufe im Auftrag des Bundesinstituts für Medienforschung an. Wir machen gerade eine Umfrage über die Nutzung der Radiosender in Norddeutschland. Darf ich ihnen dazu einige Fragen stellen?“
Es gehörte nicht zu Sieghard Sellhorns Gewohnheiten, das Mobilteil seines Telefons mitzunehmen, wenn er zur Toilette ging. Aber er hatte zuweilen Schwierigkeiten, bei den Absichten, die er mit diesem Gang verband, zu einem befriedigenden Erfolg zu kommen. Und er befürchtete einfach, dass das Telefon klingeln könnte, wenn sich ein solcher Erfolg gerade anzukündigen schien, und er dann seine Bemühungen abbrechen und zur Küche laufen müsste, wo sich die Dockingstation des Mobilteils befand, das er hauptsächlich zum Telefonieren nutzte. Die Basisstation befand sich auf seinem Nachttisch im Schlafzimmer, weil dort die Zuleitung zum Haus an der Außenwand endete und der Abstand bis zur Anschlussdose an der Innenwand nur einen halben Meter betrug. Das war die kostengünstigste Variante für die Installation der Anlage gewesen. Und er war bei den für die Gestaltung seines Lebens nötigen Ausgaben auf kostengünstige Lösungen angewiesen. Sieghard Sellhorn war arbeitslos, langzeitarbeitslos, was heißt, er war Hartz-IV-Empfänger. Und er konnte davon ausgehen, dass das bis zur Rente so bleiben würde. Denn weil es billiger war, die Milch mit Tanklastzügen über hunderte Kilometer zu zentralen Großbetrieben zu transportieren, als sie dort zu verarbeiten, wo sie produziert wurde, gab es in der Region, wo er zuhause war keinen Bedarf mehr an Milchverarbeitungsfacharbeitern. Und die Umschulung zum Gas- und Wasserinstallateur hatte auch nichts gebracht. War es doch nicht nur die Milch verarbeitende Industrie der östlichen Landesteile, die nach der Wiedervereinigung mit den westlichen aus dem Wettbewerb gefallen war, wie es hieß. Und der Gedanke, die Wettbewerbssieger durch niedrigere Löhne für Investitionen bei den Besiegten zu interessieren, hatte genau das Gegenteil bewirkt. Da die niedrigeren Löhne nicht an den Arbeitsort des zu Entlohnenden gebunden waren, sondern an dessen Wohnort, ließ sich sogar ein doppelter Gewinn erzielen, wenn man an den alten Standorten investierte. Waren doch die benötigten Fachkräfte bereit, nicht nur die niedrigeren Löhne sondern auch die Kosten für die Anfahrt zum Arbeitsort in Kauf zu nehmen, selbst wenn der vom Wohnort hunderte Kilometer entfernt lag. Deren Lust, Häuser bauen zu lassen oder Bäder zu renovieren, hielt sich dadurch allerdings in Grenzen.
Auch Sieghard Sellhorn hatte Angebote dieser Art erhalten, aber er hatte sie für sich selbst als Lösung ausgeschlossen. Auch er konnte rechnen. Und auch er wusste die kostengünstigsten Lösungen für seine Probleme zu finden. Zumal es bei ihm niemanden gab, dem gegenüber er sich hätte schuldig fühlen müssen, wenn er mit dem Gedanken: „Was es doch alles gibt, was man nicht braucht!“ an den dennoch immer reichlich gefüllten Regalen der einschlägigen Kaufhallen entlang ging oder in den bunten Prospekten blätterte, die ihm täglich in den Briefkasten gesteckt wurden. Denn seine Frau war, wenige Monate, nachdem sie in das Haus nahe der Kreisstadt eingezogen waren, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, auf einem Fußgängerüberweg in eben dieser Kreisstadt von einem Motorrad überrollt worden, dessen Fahrer es offenbar als lohnenswertes Lebensziel angesehen hatte, die an der Ostseeküste gelegene und von einer Durchgangsstraße in eine Nord- und eine Südhälfte geteilte Stadt in möglichst kurzer Zeit und nur auf dem Hinterrad fahrend zu passieren.
Kinder hatten sie nicht gehabt. Dazu war es nicht mehr gekommen. Seine Frau war der Meinung gewesen, dass sie das neue Leben erst einmal „in die Tüte“ bekommen müssten, nachdem sich gewissermaßen über Nacht nicht nur die politischen Verhältnisse, sondern auch die gesamten Lebensumstände gewendelt hatten. Sie war Leiterin eines Pionierferienlagers gewesen und deshalb der Kategorie der staatsnah belasteten Funktionsträger zugeordnet worden. Weshalb sie, obwohl sie das Diplom eines mit Auszeichnung abgeschlossenen Pädagogikstudiums vorweisen konnte, nicht einmal mehr als geeignet für eine Tätigkeit in der nahe gelegenen Betreuungseinrichtung für geistig behinderte Kinder angesehen wurde. Nach einer anderen Frau hatte er nicht gesucht. Dazu war sie ihm zu lieb gewesen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es irgendwen geben könne, zu dem er sich auf ähnliche Weise hingezogen fühlen würde, wie zu ihr.
Und so hatte er sich eingerichtet, meldete sich pflichtgemäß alle vier Wochen bei dem beschönigend Jobcenter genannten Arbeitsamt, zog seine Aufrufnummer, wies, als Nachweis seines eigenen Bemühens, die erforderliche Anzahl beantworteter und nicht beantworteter Bewerbungsschreiben vor und vertrieb sich die Zeit, indem er von morgens bis abends an seinem Häuschen werkelte, Kaninchen züchtete und illegal auf einem nahe gelegenen Campingplatz Kirschen und Birnen und Äpfel und Pflaumen verkaufte. Wobei er zwar auch zuweilen Frauen begegnete, die ihn mehr als nur freundlich ansahen. Aber das verunsicherte ihn nicht in seinem Entschluss, lieber für sich allein bleiben zu wollen.
Deshalb kann es schon als bemerkenswert angesehen werden, dass ihn dieser Anruf auf eine seltsame Weise berührte. Wobei das weniger mit der Situation zu tun hatte, in der er ihn entgegen nahm, als mit der Stimme der Frau, die da beauftragt war, etwas über seine Gewohnheiten bezüglich der Nutzung des Radios in Erfahrung zu bringen. Sie kam ihm irgendwie vertraut vor, obwohl sie eindeutig die Stimme einer Frau war, die viel zu jung sein musste, um ihm vertraut vorkommen zu können. So junge Frauen gehörten nicht zu seinem Bekanntenkreis. Und auch die Frauen, die ihm bei seinen illegalen Geschäften auf dem Campingplatz zu verstehen gaben, dass sie es als durchaus vorstellbar ansahen, mit ihm auch über anderes als nur über Äpfel und Birnen reden zu können, gehörten nicht der Altersgruppe an, der diese Frau anzugehören schien. Weshalb er dann auch auf ihre Frage, ob er bereit sei, sie bei der Erfüllung ihres Auftrags zu unterstützen, nicht mit: „Ja“, antwortete, sondern: „Wie war ihr Name?“, fragte.
„Verena Wachenschwanz, vom Bundesinstitut für Medienforschung “, bekam er da noch einmal zu hören und hatte plötzlich so etwas wie eine Vision.

     
     
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