Einmischung in innere Angelegenheiten
Erzählungen, 2001
     
Es war nur ein winziger Augenblick, nicht mehr als eine zehntel Sekunde, dass Oberleutnant Kotlau die Brieftasche des hohen Gastes zwischen den Fingern hielt. Dann spürte er den Widerstand, ein deutliches Ziehen, so als ob da noch andere Finger im Spiele wären, und als er erschreckt die seinen öffnete, fiel das Zielobjekt seines langfristig geplanten und wohl hundert mal geübten Griffs zur rechten äußeren Tasche eines gut sitzenden Jacketts zu Boden.
"Oh", sagte darauf der hohe Gast, bückte sich, hob es auf, führte seine linke Hand zum Revers dieses Jacketts, zog es leicht vom Körper ab und verstaute es mit Hilfe der rechten an einer für fremde Zugriffe weniger geeigneten Stelle, während Oberleutnant Kotlau ein Lächeln zu sehen vermeinte, ein ironisches Lächeln, ein ironisches Lächeln auf einem ihm unbekannten Gesicht, das sich abwandte und sofort im Gedränge des ebenfalls langfristig geplanten und ebenfalls wohl hundert mal geübten Menschenauflaufs verschwand.
"Wer war der Mann?" fragte er deshalb bei der Auswertung der misslungenen Aktion. Doch sooft auch die Videoaufnahmen abgespielt wurden, um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, sie zeigten keinen Mann, zumindest keinen, der nicht zu den für diesen Einsatz abkommandierten und mehrere Wochen lang in einer extra dafür nachgebauten Kulisse des Domplatzes der kleinen norddeutschen Stadt trainierten Kräften gehört hätte. Und ein ironisches Lächeln fand sich nur auf dem Gesicht des hohen Gastes.
"Es muss alles noch einmal nachgestellt werden", forderte er deshalb. "Da waren noch andere Finger im Spiel. Ich weiß es genau."
Doch weil der Chef des Dienstes, dem Oberleutnant Kotlau zugehörte, persönlich einen Bericht über die eingeleiteten Maßnahmen verlangte, war sein Vorgesetzter nicht einmal bereit, seinen Hinweis auf die mangelhafte Arbeit des Kameramannes in die Aufzählung der Ursachen aufzunehmen, die zum Scheitern des Einsatzes geführt hatten.
Ja, gewiss, gab er zu, die Kamera hätte den Vorgang mehr aus der Totalen aufnehmen und sich weniger den Details widmen sollen. Doch hatte andererseits die Weisung "Genauigkeit!" gelautet. Der Chef selber hatte das gefordert: "Genauigkeit! Vor allem im Detail. - Ich will den Zugriff sehen können, oder wenigstens den Weg des Objekts, wenn es durch die Reihen zum Depot geleitet wird."
So war der Kameramann auf die Details fixiert gewesen, auf Oberleutnant Kotlaus Hand, die zunächst, wie andere Hände auch, winkend dem kleinen Vorsitzenden huldigte, sich dann aber gezielt senkte, plötzlich aber, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, nach oben schwang, während sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck blöder Betroffenheit abzuzeichnen begann, indes die Brieftasche nicht, wie vorgesehen, von seiner Hand zu einer anderen wechselte, sondern zu Boden fiel. Danach zeigten die Bilder wieder eine Hand. Doch war dies nicht mehr Oberleutnant Kotlaus Hand, sondern die Hand des hohen Gastes, die zwischen zurückweichenden Füßen nach dem feinen braunen Leder tastete, um es dann mit einigen wohl mehr als hundert Mal geübten Bewegungen hinter dem linken Revers seines tadellos sitzenden Jacketts verschwinden zu lassen, während sein Gesicht ein ironische Lächeln zeigte, welches jedoch, wie Oberleutnant Kotlau immer wieder beteuerte, keinesfalls dem ironische Lächeln entsprach, das gesehen zu haben er vermeinte.

"Zum Schluss noch ein kleines Kunststück aus meiner Zeit als Eleve bei den stillen Diensten meines Staates", hatte indes der hohe Gast am Ende eines Vieraugengesprächs zum kleinen Vorsitzenden noch gesagt, und hatte ihm dann eine bühnenreife Manipulation mit zwei gleich aussehenden Brieftaschen vorgeführt. Wobei er immer wieder etwas auf einem schmalen Notizblock in einer der Brieftaschen notierte und sie anschließend in der rechten äußeren Tasche seines Jacketts verstaute. Wenn er sie jedoch kurz darauf wieder hervorzog, um erneut etwas zu notieren, fehlten die vorherigen Eintragungen. Sie fanden sich auf dem gleichformatigen Notizblock in der anderen Brieftasche, die allerdings während der ganzen Zeit der Vorführung an ihrem Platz in der linken inneren Brusttasche zu verbleiben schien.
"Erzählen Sie gelegentlich Ihren Leuten davon."
Der kleine Vorsitzende hatte darauf mit seinem bekannten Lächeln geantwortet, die Lippen zusammengepresst und etwas spitz nach vorn geschoben, und hatte sich beim Abschied mit einem Bonbon für die Aufgeschlossenheit des Gesprächs bedankt

     
     
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