Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Die sieben Söhne
sprachen: „Komm, Vater, erzähl uns mal eine Geschichte.“
Da fing der Vater an: „Es war einmal ein Mann, der hatte sieben
Söhne. Die sieben Söhne sprachen: Komm, Vater, erzähl uns
mal eine Geschichte.“ Und als die Söhne schon dachten, er wolle
sie zum Besten halten, stand er auf, ging zur Tür, lauschte auf die
Geräusche, die aus der Küche über den Flur zum Wohnzimmer
drangen, schloss dann die Tür und sagte: „Carola hieß
sie wohl.“
Ja, Carola hatte sie wohl geheißen oder auch Carolin, oder vielleicht
doch eher Karla. Denn die Zeit aus der der Vater erzählte lag etwas
zurück, und Eltern dürften ihre Töchter damals kaum Carola
oder Carolin genannt haben. Also hatte sie wohl doch eher Karla geheißen.
Zumal sie schon fünfunddreißig war, als der Vater ihr begegnete.
– Aber das ist eigentlich auch egal. – Denn um den Namen ging
es nicht. Es ging darum, dass erzählt wurde, bei der könne man.
Achtzehn war er damals gewesen und seit hundert Tagen in Uniform. Kasernierte
Volkspolizei, am Rande der Dresdner Heide. Und alles, was auf den Kasernenstuben
erzählt wurde, wenn einer nachts vom Ausgang zurückkam, war
reine Lüge. Da machte er keine Ausnahme.
Fünfziger Jahre. Das Brot gab es noch auf Marken. Die Mütter
sagten: „Wer früh ein Kind kriegt, muss auch schon früh
dafür sorgen, dass es satt wird.“ Und die Mädchen wussten,
das betraf dann meistens sie. Weshalb auch das, womit sie damals ihre
verlockendsten Stellen umhüllten, weniger zum Verlocken gedacht war
als zum Abblocken.
Nicht solche zur Not als Schnürsenkel einsetzbaren Nabelbinden wie
heutigentags. Was sie unter Rock und Bluse, Unterrock und Strumpfhaltergürtel
trugen, war nicht selten handgemacht. Fahnenstoff oder Fallschirmseide,
mit Gummis und Bändern mehrfach gegen unbeabsichtigtes Rutschen gesichert.
Das saß fest wie Panzerhemden. Und ehe da mal einem gestattet wurde,
zu prüfen, wie straff die Gummis waren, musste es schon hoher Sommer
sein. Und Nachtigallen mussten schlagen. Und der nächste lebende
Mensch musste weit, weit, weit entfernt sein. Denn im Sommer bleibt es
lange hell. Und wenn einer erst hundert Tage in Uniform war, dann hieß
das, dass er spätestens um zweiundzwanzig Uhr das Tor zu passieren
hatte. Weshalb sich als günstigster Ort für solche Prüfungen
der nahe gelegene Friedhof anbot. Wozu sich aber Mädchen gewöhnlicher
Weise schwer überreden lassen. Und selbst wenn, musste der Weg bis
zu den Gummis Schritt für Schritt und Stufe für Stufe erkämpft
werden. Erstes Wochenende, zwei Blusenknöpfe unterm Hals. Zweites
Wochenende, Knopf Nummer drei. Drittes Wochenende, zweimal schnipsen am
BH-Verschluss. Viertes Wochenende, endlich Haut. Und wenn es hoch kam,
konnte man ab nun während des Zurückhetzens in die Kaserne beim
Zwischenstopp hinter einer Bushaltestelle, den Handflächen die Erinnerung
an den Druck abfordern, mit dem sich zwei feste, punktförmiger Knubbel
in sie eingefügt hatten. Männer im Alter von achtzehn Jahren
verfügten damals jedenfalls über einen anderen Erfahrungsschatz
als Männer im vergleichbaren Alter heute. So hatten sie etwa eine
Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn es einem, bei dem Versuch, an
das Pulver im Treibsatz einer Panzerfaust zu gelangen, den Unterarm bis
zu den Ellenbogen wegreißt. Wer seine Kindheit in einer Großstadt
verbracht hatte, wusste um die Wirkung des die Knochen zum vibrieren bringenden
Brummens heranziehender Bombergeschwader. Kaum einer, der nicht den Wunsch
zu sterben kannte, weil es nach einer Stunde Fußmarsch und zwei
Stunden anstehen nach Wurstbrühe beim Fleischer, kurz bevor man an
der Reihe war: „Aus!“, geheißen hatte. „Es gibt
nichts mehr.“ Und dass man beim Ährenlesen auf den abgeernteten
Feldern die nackten Füße nicht anheben durfte, sondern sie
schlurfend über die Stoppeln ziehen musste, weil die sich sonst in
die Fußsohlen bohrten, wusste jeder.
Der Vorstellung, wie eine Frau ohne die aufwändige Verhüllung
in Form von Kleidern, Blusen, Röcken und kunstseidenem Unterzeug
aussehen mochte, konnte man sich allerhöchstens nähern, wenn
man heimlich der Puppe der jüngeren Schwester unter das Kleidchen
guckte und ihr die aus Hartpappe gestanzten Beine verrenkte. Ganz zu schweigen,
dass man wusste, wie eine Frau sich anfühlt. Umso drängender
das Bedürfnis danach. Und ganz besonders dort, wo junge Männer
von achtzehn Jahren genötigt waren, die Tage und die Nächte,
den Sommer wie den Winter in eng mit metallenen Doppelstockbetten voll
gestellten Räumen zu verbringen und es eigentlich kaum ein anderes
Gesprächsthema gab als dieses.
So auch in dem Zimmer in dem der Vater nun schon hundert Tage zugebracht
hatte und der Sommer mit Nachtigallenschlagen und grünenden Friedhofshecken
noch weit war. Sein Einstellungsmonat war der September gewesen. Jetzt
war es Dezember. Das Jahr versprach zu enden, ohne dass er schlauer geworden
wäre. Da erzählte ihm eines Tages einer flüsternd, er habe
einen Tipp bekommen: Karla, fünfunddreißig etwa, weich und
rund, mit eigener Wohnung und Sehnsüchten, die sie manchmal durch
die Bereitschaft zu besänftigen versuche, Unwissenden zu Wissen zu
verhelfen. Nur eine Bedingung gäbe es: Kürbissuppe.
„Kürbissuppe?“, fragte der Vater verständnislos.
„Ja, Kürbissuppe!“
„Kochen oder essen?“
„Teils, teils.“
„Was, teils, teils?“
„Schmeckt sie ihr, isst sie sie. Schmeckt sie ihr nicht, musst du
sie essen. Alles! – Mir kommt schon das Kotzen, wenn ich das Wort
höre.“
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