Es war einmal ein Mann
Geschichten vom Essen, Trinken und anderen schönen Dingen, 2006
     


Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Die sieben Söhne sprachen: „Komm, Vater, erzähl uns mal eine Geschichte.“
Da fing der Vater an: „Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Die sieben Söhne sprachen: Komm, Vater, erzähl uns mal eine Geschichte.“ Und als die Söhne schon dachten, er wolle sie zum Besten halten, stand er auf, ging zur Tür, lauschte auf die Geräusche, die aus der Küche über den Flur zum Wohnzimmer drangen, schloss dann die Tür und sagte: „Carola hieß sie wohl.“
Ja, Carola hatte sie wohl geheißen oder auch Carolin, oder vielleicht doch eher Karla. Denn die Zeit aus der der Vater erzählte lag etwas zurück, und Eltern dürften ihre Töchter damals kaum Carola oder Carolin genannt haben. Also hatte sie wohl doch eher Karla geheißen. Zumal sie schon fünfunddreißig war, als der Vater ihr begegnete. – Aber das ist eigentlich auch egal. – Denn um den Namen ging es nicht. Es ging darum, dass erzählt wurde, bei der könne man. Achtzehn war er damals gewesen und seit hundert Tagen in Uniform. Kasernierte Volkspolizei, am Rande der Dresdner Heide. Und alles, was auf den Kasernenstuben erzählt wurde, wenn einer nachts vom Ausgang zurückkam, war reine Lüge. Da machte er keine Ausnahme.
Fünfziger Jahre. Das Brot gab es noch auf Marken. Die Mütter sagten: „Wer früh ein Kind kriegt, muss auch schon früh dafür sorgen, dass es satt wird.“ Und die Mädchen wussten, das betraf dann meistens sie. Weshalb auch das, womit sie damals ihre verlockendsten Stellen umhüllten, weniger zum Verlocken gedacht war als zum Abblocken.
Nicht solche zur Not als Schnürsenkel einsetzbaren Nabelbinden wie heutigentags. Was sie unter Rock und Bluse, Unterrock und Strumpfhaltergürtel trugen, war nicht selten handgemacht. Fahnenstoff oder Fallschirmseide, mit Gummis und Bändern mehrfach gegen unbeabsichtigtes Rutschen gesichert. Das saß fest wie Panzerhemden. Und ehe da mal einem gestattet wurde, zu prüfen, wie straff die Gummis waren, musste es schon hoher Sommer sein. Und Nachtigallen mussten schlagen. Und der nächste lebende Mensch musste weit, weit, weit entfernt sein. Denn im Sommer bleibt es lange hell. Und wenn einer erst hundert Tage in Uniform war, dann hieß das, dass er spätestens um zweiundzwanzig Uhr das Tor zu passieren hatte. Weshalb sich als günstigster Ort für solche Prüfungen der nahe gelegene Friedhof anbot. Wozu sich aber Mädchen gewöhnlicher Weise schwer überreden lassen. Und selbst wenn, musste der Weg bis zu den Gummis Schritt für Schritt und Stufe für Stufe erkämpft werden. Erstes Wochenende, zwei Blusenknöpfe unterm Hals. Zweites Wochenende, Knopf Nummer drei. Drittes Wochenende, zweimal schnipsen am BH-Verschluss. Viertes Wochenende, endlich Haut. Und wenn es hoch kam, konnte man ab nun während des Zurückhetzens in die Kaserne beim Zwischenstopp hinter einer Bushaltestelle, den Handflächen die Erinnerung an den Druck abfordern, mit dem sich zwei feste, punktförmiger Knubbel in sie eingefügt hatten. Männer im Alter von achtzehn Jahren verfügten damals jedenfalls über einen anderen Erfahrungsschatz als Männer im vergleichbaren Alter heute. So hatten sie etwa eine Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn es einem, bei dem Versuch, an das Pulver im Treibsatz einer Panzerfaust zu gelangen, den Unterarm bis zu den Ellenbogen wegreißt. Wer seine Kindheit in einer Großstadt verbracht hatte, wusste um die Wirkung des die Knochen zum vibrieren bringenden Brummens heranziehender Bombergeschwader. Kaum einer, der nicht den Wunsch zu sterben kannte, weil es nach einer Stunde Fußmarsch und zwei Stunden anstehen nach Wurstbrühe beim Fleischer, kurz bevor man an der Reihe war: „Aus!“, geheißen hatte. „Es gibt nichts mehr.“ Und dass man beim Ährenlesen auf den abgeernteten Feldern die nackten Füße nicht anheben durfte, sondern sie schlurfend über die Stoppeln ziehen musste, weil die sich sonst in die Fußsohlen bohrten, wusste jeder.
Der Vorstellung, wie eine Frau ohne die aufwändige Verhüllung in Form von Kleidern, Blusen, Röcken und kunstseidenem Unterzeug aussehen mochte, konnte man sich allerhöchstens nähern, wenn man heimlich der Puppe der jüngeren Schwester unter das Kleidchen guckte und ihr die aus Hartpappe gestanzten Beine verrenkte. Ganz zu schweigen, dass man wusste, wie eine Frau sich anfühlt. Umso drängender das Bedürfnis danach. Und ganz besonders dort, wo junge Männer von achtzehn Jahren genötigt waren, die Tage und die Nächte, den Sommer wie den Winter in eng mit metallenen Doppelstockbetten voll gestellten Räumen zu verbringen und es eigentlich kaum ein anderes Gesprächsthema gab als dieses.
So auch in dem Zimmer in dem der Vater nun schon hundert Tage zugebracht hatte und der Sommer mit Nachtigallenschlagen und grünenden Friedhofshecken noch weit war. Sein Einstellungsmonat war der September gewesen. Jetzt war es Dezember. Das Jahr versprach zu enden, ohne dass er schlauer geworden wäre. Da erzählte ihm eines Tages einer flüsternd, er habe einen Tipp bekommen: Karla, fünfunddreißig etwa, weich und rund, mit eigener Wohnung und Sehnsüchten, die sie manchmal durch die Bereitschaft zu besänftigen versuche, Unwissenden zu Wissen zu verhelfen. Nur eine Bedingung gäbe es: Kürbissuppe.
„Kürbissuppe?“, fragte der Vater verständnislos.
„Ja, Kürbissuppe!“
„Kochen oder essen?“
„Teils, teils.“
„Was, teils, teils?“
„Schmeckt sie ihr, isst sie sie. Schmeckt sie ihr nicht, musst du sie essen. Alles! – Mir kommt schon das Kotzen, wenn ich das Wort höre.“

 

 

     
     
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