Estrella
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Er befand sich in der zweiten Runde seines persönlichen Laufparcours, als ihn die Frau mit dem Fahrrad überholte. Drei Runden hatte er sich vorgenommen, jede zehn Kilometer, und sein Programm sah eine Steigerung des Tempos erst auf den letzten fünf Kilometern vor. Deshalb nahm er es gelassen hin, als sie an ihm vorüber zog, obwohl er mit einer Geschwindigkeit lief, bei der gewöhnlich er die Radfahrer überholte. Auf der Strecke, die er sich für sein Training zusammengestellt hatte, waren allenfalls Spazierfahrer unterwegs und die begnügten sich meist mit einem Tempo von acht bis zehn Stundenkilometern. Das schaffte er locker. Diese Frau aber war deutlich schneller gewesen. Und wenn ihn das schließlich doch bewegte, so deshalb, weil ihr dieses Tempo offensichtlich nicht leicht fiel. Ihren keuchenden Atem hatte er noch vor dem Knirschen der Reifen auf dem Kies hinter sich hören können. Und weil er meinte, dieses Keuchen werde bestimmt mit einem schwankenden und schlingernden Lauf des Rads gekoppelt sein, hatte er sich als Kommentar eine ironische Bemerkung für den Fahrer zurechtgelegt, verkniff sie sich aber, als er sah, dass es sich um eine Frau handelte, die da so angestrengt dahergestampft kam. Für eine Frau war diese Bemerkung nicht gedacht. Ja, für eine Frau wäre sie sogar höchst unpassend gewesen. „Na, da wird das Pferdchen heute aber im Stall bleiben müssen.“ Obwohl das Problem, auf das er mit dieser Bemerkung Bezug zu nehmen vorgehabt hatte, auch auf diese Frau zutraf, wie er sofort sah, nachdem sie mit einem stur voraus gerichteten Blick an ihm vorüber gezogen war. Denn das Schwanken und Schlingern des Rads waren weniger auf den falschen Gang zurückzuführen, den sie offenbar in der Annahme gewählt hatte, dadurch schneller vorwärts kommen zu können, sondern vor allem auf ihre falsche Sitzposition. Der Sattel war mindestens zwei Zentimeter zu hoch eingestellt. Das aber hatte zur Folge, dass ihr Hintern bei jedem Tritt weit nach links oder nach rechts abwärts kippte, und weil dieser von seiner Form her nicht gerade zu denen gehörte, von denen er sich hätte vorstellen können, sie mit den Händen umfassen zu wollen, sofern ihm das gestattet werde, wirkte das, als bemühe sie sich, den schlingernden Lauf des Rades mit dessen Gewicht auszugleichen. Wodurch sich allerdings das Problem, auf das er mit seiner für einen Mann gedachten Bemerkung hatte hinweisen wollen, zweifellos verstärkte. Sie würde wund gerieben sein, bis sie das Ziel erreichte, dem sie so angestrengt entgegen strebte. Deshalb und wirklich nur deshalb unterbrach er seinen Lauf, als er sie fünf Kilometer weiter auf der Bank unter dem Dach einer der für Wanderer errichteten Schutzhütten sitzen sah und sagte, während er, um nicht aus dem Rhythmus zu kommen, auf der Stelle weiter trabte: „Entschuldigen Sie, es geht mich eigentlich nichts an, aber mir tut das in der Seele weh. Sie sitzen nämlich falsch.“ Worauf sie erschreckt aufsprang und zunächst auf die Bank, dann zum Dach der Hütte hinauf schaute, ihren Blick aber schließlich ihm zuwandte und verständnislos: “Wieso?“, fragte. „Ihr Sattel ist zu hoch eingestellt.“ Ließ er sie deshalb, immer noch auf der Stelle weiter trabend, wissen. Was sie mit einem kurzen, ihn an irgendetwas erinnernden Lachen quittierte und dann: „Mein Gott!“, sagte. „Mein Gott! Und ich dachte, es ist etwas mit der Bank oder es gibt hier ein Hornissennest oder so“ und sich wieder setzte. „Nein, nein, nur der Sattel, der Sattel ist falsch eingestellt“, ergänzte er deshalb. „Als einer mit tausenden von Kilometern in den Beinen sehe ich das auf den ersten Blick. Zwei Zentimeter, würde ich sagen. Wenn Sie so weiter fahren, werden Sie sich wund reiben.“ Worauf sie wieder auf die ihm so seltsam bekannt vorkommende Weise lachte und: „Ist leider schon passiert“, dazu sagte. Dann aber, offenbar weil sich das durch ihr angestrengtes Stampfen bedingte Rot ihres Gesichts sichtlich dunkler einzufärben begann, den Blick zu ihren Füßen lenkte. Möglicherweise war ihr jäh bewusst geworden, dass sie eben einem ihr völlig fremden Mann etwas anvertraut hatte, was eine Frau normalerweise nicht einmal einem ihr bekannten Mann anvertrauen würde, und damit zugleich auch seine Aufmerksamkeit auf einen Bereich ihres Körpers gerichtet hatte, auf den die Aufmerksamkeit ihnen nicht bekannter Männer gerichtet zu wissen, von Frauen nicht gerade als beruhigend angesehen werden dürfte. Und ringsum war Wald. Und der Weg an dem die Schutzhütte stand, war nicht einmal ein Weg, der zwei Ortschaften miteinander verband. Wodurch abzusehen war, dass an dieser Stelle nur selten jemand vorbeikommen würde, wenn überhaupt. Während ihm eben so jäh sein unentwegtes auf der Stelle Traben ziemlich kindisch vorkam, weshalb er es einstellte und dabei bemerkte, wie auch er errötete. „Ist das ihr eigenes Rad, oder haben sie es nur geborgt?“, fragte er deshalb. Was sie mit einem resignierten Schulterzucken beantwortete und dazu sagte: „Was ändert das? Zu hoch ist zu hoch, egal ob meins oder nicht meins.“ Und er bestätigen musste: „Da haben sie recht.“ Dann herrschte Schweigen, während dessen sie beide bemüht waren, ihre Blicke einander nicht begegnen zu lassen, sich zugleich aber auch gegenseitig taxierten.

     
     
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