Gustav
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     

  ... Und so begann sie schließlich doch an einem Text zu basteln, der sich ins Internet stellen ließe.Promovierte Statikerin, zurzeit etwas aus dem Gleichgewicht, sucht …“. – Ja, aber was suchte sie? Das war die Hürde, über die sie nicht hinaus kam. Hatte sie Gustav gesucht? Hätte sie formulieren können, was sie gesucht hatte, als sich während des Abiturjahres bei einem als fakultativ angekündigten Vortrag im Geschichtsunterricht ihre Blicke trafen und sie plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr aufstehen zu können. Suchte man überhaupt? Oder fand man einfach? – Und wenn man gefunden hatte, was machte man mit der Angst, es könne wieder ein Irrtum sein? Welche Worte wären geeignet, dieses Schwanken zwischen Hoffen und Bangen auf eine Formel zu bringen? Und wer wäre dann in der Lage, sie auch entschlüsseln zu können?

Und so schob sie die Vollendung dieses Textes immer wieder vor sich her, ohne ihn allerdings einfach löschen zu können. Immer wieder einmal, wenn sie zwischen zwei Terminen etwas Zeit hatte und sich für ein paar Minuten Ruhe in ihr Lieblingscafé zurückzog, klappte sie ihr iPad auf, öffnete die entsprechende Datei und versuchte Worte zu finden, die nach diesem: „sucht“ zu setzen wären. Bis sich dabei eines Tages von hinten her zwei Hände über ihre Augen legten, wie sie es von ihren Kindertagen her kannte und wie es Gustav während ihrer ersten gemeinsamen Jahres getan hatte, wenn sie eigentlich nicht verabredet waren und er von Halle nach Weimar gefahren war und sie beim Essen in der Mensa überraschte oder im Lesesaal der Universitätsbibliothek. Und es lag nicht nur an der Form der Hände oder deren Geruch oder die Art des Drucks, mit der das getan wurde, dass sie erfreut: „Gustav?“ fragte, etwas zu erfreut, wie sie zugleich bemerkte, sich dann aber einem Mann gegenüber sah, den sie nicht kannte und der offensichtlich auch sie nicht kannte. Denn er erklärte erschrocken: „Oh, Verzeihung. Da habe ich mich aber vertan. Ich habe sie für die Schwester meiner Frau gehalten. Das ist mir jetzt aber peinlich.“ Während er zugleich seine Augen mit den Händen bedeckte und dazu errötete. Indessen bei ihr ein Blitz einschlug. Ja, genau dieses Gefühl hatte sie, ein Blitz, der sie regelrecht zu zerteilen schien, und zwar vom Magen abwärts bis zu den Knien. Das heißt, dass er sich verzweigte, dort wo er sich zu verzweigen vermochte. Während sich zugleich in ihrer Brust eine Empfindung herausbildete, die sich nur als schmerzliches Bedauern hätte fassen lassen. Ein Bedauern, das sich in ihrem Kopf zu der Feststellung: „Verheiratet“, formte. Natürlich war dieser Mann verheirate. Wie auch nicht? So wie er aussah. Drahtig, schlank, mit einer Gesichtsfarbe, als wäre er eben von einem Segelturn nach Teneriffa zurückgekehrt oder von einem Surfurlaub in der Karibik. Außerdem war er jung, so jung, dass sich für sie ein Blitz, der sie vom Magen bis zu den Knien durchzuckte, geradezu verbot. Fünf bis sechs Jahre jünger als sie, wenn nicht sogar zehn. Indessen er, verlegen lachend: „So eine Ähnlichkeit aber auch“, sagte. „Ich glaube, da hätte sich sogar meine Frau vertun können. Entschuldigen Sie. – Aber woher wussten Sie eigentlich meinen Namen?
Worauf sie:„Weil mein Mann das immer genauso gemacht hat“, sagte und: „mein geschiedener Mann“, ergänzte. Und danach ihrerseits errötete. Denn das war eine Ergänzung, die eigentlich nicht nötig gewesen wäre, zumindest nicht, wenn sich damit nicht die Hoffnung verbunden hätte, er möge: „Ach“, sagen. Und dann: „Ich sprach übrigens auch von meiner geschiedenen Frau“ oder etwas in dieser Art. Obwohl er doch zu jung war, um eine solche Hoffnung rechtfertigen zu können, eindeutig zu jung, viel zu jung.
Aber er sagte: „Dann zieh ich mich jetzt lieber wieder zurück. Sie waren ja wohl beim Arbeiten.
Womit der Ball wieder bei ihr lag.
Und obwohl ihr Kopf: „Sei doch nicht blöd“, sagte. „Das kann doch nur schief gehen.“, klappte sie die Schutzklappe über das Displays ihres iPads und sagte:„ Ach, das war nichts Besonderes. Ich hab einfach nur mal kurz meine eMails gecheckt.
Ich wollte eigentlich auch nur mal kurz einen Blick in die Zeitung werfen“, sagte, und zugleich nach der Lehne des Stuhls griff. Wobei er noch einmal verwundert den Kopf schüttelte und noch einmal:„So eine Ähnlichkeit aber auch“, erklärte. „Man könnte direkt meinen, Ihre Mutter hat sich einmal in der Zimmertür vertan.“
Worauf sie: „Wieso denn meine Mutter?“, protestierte.
Und er: „Na, gut, oder der Vater meiner Frau“, entgegnete. „Aber das kommt ja wohl auf dasselbe heraus. Meinen Sie nicht?“
Was sie noch einmal protestieren ließ: „Meine Mutter bestimmt nicht. Wir sind drei Schwestern und eine sieht wie die andere aus.“
Und nun zog er den Stuhl zurück und setzte sich und sagte: „Meine Frau und ihre Schwestern waren auch zu dritt. Und da sieht auch eine wie die andere aus. – So schön, müsste ich eigentlich sagen. Darf ich Ihnen einen Kaffee bestellen?“




     
     
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