Kapitel V
Wohl niemals zuvor hatte sich Johanna auf die Fahrt zu einem Konzert mit so
viel Umsicht vorbereitet. Sie hatte, nachdem Pentschowius wieder davongefahren
war, den Flügel geschlossen, alle Noten, die in seinem Umfeld auf Schränken
und Hockern und dem Fußboden umherlagen, in den ihnen zugedachten Ordnern
und Regalfächern verstaut, war dann in die Küche hinunter gegangen,
hatte sich einen Zettel und einen Kugelschreiber genommen und hatte dann Punkt
für Punkt aufgeschrieben, was sie alles noch vor der Abfahrt zu erledigen
hatte und in welcher Reihenfolge. Und erst nachdem sie wiederum Punkt für
Punkt davon ausgestrichen hatte, war sie hinauf zum Flügel gegangen, hatte
ihn wieder aufgeklappt und hatte dann mit einer seltsamen Mischung von Gelassenheit
und Konzentration zweimal das Konzert in seiner ganzen Länge und dann noch
mehrmals einige Passagen gespielt, mit denen sie nicht zufrieden gewesen war.
Und hatte sogar noch Zeit gefunden, Kartoffelsuppe mit fleischlosen Würstchen
zu kochen, nachdem sie die Mädchen von der Schule abgeholt hatte, und zu
essen mit ihnen und zu erzählen. Und als sie Pacos Rucksack auf dem Beifahrersitz
gelegt, sich selbst hinter dem Lenkrad zurechtgesetzt und den Gurt vom linken
Türholm aus über die Brust gezogen hatte, war das immer noch siebzehn
Minuten früher gewesen, als es der von ihr am Morgen aufgestellte Zeitplan
vorsah.
Doch als sie dann den Zündschlüssel drehte, folgte irgendein undefinierbares
Geräusch, ein Reißen oder Knirschen oder Brechen, und dann drehte
und drehte und drehte sich irgendetwas, das gewohnte Aufbrummen des Motors aber
blieb aus.
„Was denn nun?“ fragte Esmeralda, die zögernd herangelaufen
kam, als sie ausstieg und die Motorhaube öffnete. Und sie antwortete, schon
den Tränen nahe, „Ich weiß auch nicht. - Es war so ein komisches
Geräusch.“ Und schaute auf die Uhr.
Dann standen sie zu dritt, blickten ratlos auf das schon oftmals in der gleichen
Weise betrachtete Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Plastikbehältern
und verschiedenen ölverschmierten metallenen Aggregaten, rückten spitzfingrig
hier und zogen da. Und sie spürte dabei, wie sich von ganz weit innen her
eine lähmende Mutlosigkeit in ihr ausbreitete, wie ihr die Tränen
immer machtvoller von der Nasenwurzel her in die Augenwinkel drängten,
und kämpfte dagegen an und rechnete, und wusste doch, es hatte alles keinen
Zweck. Das nächste Taxi gab es in Bad Lauterberg. Das lag bald dreißig
Kilometer entfernt. Ehe das bei ihr sein konnte, würde mehr als eine halbe
Stunde vergangen sein. Die gleiche Zeit würde es dann wieder zurück
bis zur Autobahn brauchen. Und dann blieben immer noch hundertzwanzig Kilometer
bis nach Braunschweig. Sie würde also auch bei noch so kühner Fahrweise
des Fahrers niemals rechtzeitig bei Bruchmeier zur Probe erscheinen können.
Alles aber, das war international bekannt, alles war der bereit, einem Solisten
nachzusehen, niemals aber, dass er verspätet zur Orchesterprobe erschien.
Mehr als einmal schon hatte er wegen einer solchen Verspätung ein ganzes
Konzert ausfallen lassen und die vom Veranstalter eingeforderte Vertragsstrafe
und dazu noch die Kosten für seinen Rechtsanwalt und ein Schmerzensgeld
wegen Schädigung seines Rufes, an den Verursacher dieser Absage weitergereicht.
Denn das schien jedem Gericht einsehbar, dass ein Mann seiner Bedeutung es sich
nicht leisten konnte, ein Konzert zu dirigieren, bei dem es zwischen ihm und
dem Solisten zu Missverständnissen kam, weil nicht genügend Zeit geblieben
war, sich aufeinander einzustellen.
Das Haus würde sie verkaufen müssen, wusste sie, ihren Flügel,
das Grundstück, und Pentschowius würde nun wirklich niemals mehr bei
irgendwem ein gutes Wort für sie einlegen wollen. Denn nach solch einem
Reinfall konnte er endgültig die Hoffnung aufgeben, sein fünfzehn
Jahre währendes Bemühen um sie, durch einen sensationellen Erfolg
vergolten zu bekommen.
So hatte sie sich bereits in eine nahezu panische Mutlosigkeit hineingesteigert,
die ihr keinerlei logische Gedankenverbindungen mehr ermöglichte, geschweige
sie befähigt hätte, irgendeine von außen an sie herangetragene
Anregung aufnehmen zu können, als ein Mann, bekleidet mit einer pinkfarbenen,
glänzenden Kniehose, weißen Strümpfen, einem violetten, frackähnlichen
Jäckchen, Rüschenhemd und weißer Zopfperücke sein mit Packtaschen
beladenes Fahrrad gegen einen der geöffneten Flügel des Hoftors lehnte
und mit der Frage: „Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein?“
auf sie zukam.
|