Ohne Hoffnung ist kein Leben
Roman, 2005
     

 

Kapitel V

Wohl niemals zuvor hatte sich Johanna auf die Fahrt zu einem Konzert mit so viel Umsicht vorbereitet. Sie hatte, nachdem Pentschowius wieder davongefahren war, den Flügel geschlossen, alle Noten, die in seinem Umfeld auf Schränken und Hockern und dem Fußboden umherlagen, in den ihnen zugedachten Ordnern und Regalfächern verstaut, war dann in die Küche hinunter gegangen, hatte sich einen Zettel und einen Kugelschreiber genommen und hatte dann Punkt für Punkt aufgeschrieben, was sie alles noch vor der Abfahrt zu erledigen hatte und in welcher Reihenfolge. Und erst nachdem sie wiederum Punkt für Punkt davon ausgestrichen hatte, war sie hinauf zum Flügel gegangen, hatte ihn wieder aufgeklappt und hatte dann mit einer seltsamen Mischung von Gelassenheit und Konzentration zweimal das Konzert in seiner ganzen Länge und dann noch mehrmals einige Passagen gespielt, mit denen sie nicht zufrieden gewesen war. Und hatte sogar noch Zeit gefunden, Kartoffelsuppe mit fleischlosen Würstchen zu kochen, nachdem sie die Mädchen von der Schule abgeholt hatte, und zu essen mit ihnen und zu erzählen. Und als sie Pacos Rucksack auf dem Beifahrersitz gelegt, sich selbst hinter dem Lenkrad zurechtgesetzt und den Gurt vom linken Türholm aus über die Brust gezogen hatte, war das immer noch siebzehn Minuten früher gewesen, als es der von ihr am Morgen aufgestellte Zeitplan vorsah.
Doch als sie dann den Zündschlüssel drehte, folgte irgendein undefinierbares Geräusch, ein Reißen oder Knirschen oder Brechen, und dann drehte und drehte und drehte sich irgendetwas, das gewohnte Aufbrummen des Motors aber blieb aus.
„Was denn nun?“ fragte Esmeralda, die zögernd herangelaufen kam, als sie ausstieg und die Motorhaube öffnete. Und sie antwortete, schon den Tränen nahe, „Ich weiß auch nicht. - Es war so ein komisches Geräusch.“ Und schaute auf die Uhr.
Dann standen sie zu dritt, blickten ratlos auf das schon oftmals in der gleichen Weise betrachtete Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Plastikbehältern und verschiedenen ölverschmierten metallenen Aggregaten, rückten spitzfingrig hier und zogen da. Und sie spürte dabei, wie sich von ganz weit innen her eine lähmende Mutlosigkeit in ihr ausbreitete, wie ihr die Tränen immer machtvoller von der Nasenwurzel her in die Augenwinkel drängten, und kämpfte dagegen an und rechnete, und wusste doch, es hatte alles keinen Zweck. Das nächste Taxi gab es in Bad Lauterberg. Das lag bald dreißig Kilometer entfernt. Ehe das bei ihr sein konnte, würde mehr als eine halbe Stunde vergangen sein. Die gleiche Zeit würde es dann wieder zurück bis zur Autobahn brauchen. Und dann blieben immer noch hundertzwanzig Kilometer bis nach Braunschweig. Sie würde also auch bei noch so kühner Fahrweise des Fahrers niemals rechtzeitig bei Bruchmeier zur Probe erscheinen können. Alles aber, das war international bekannt, alles war der bereit, einem Solisten nachzusehen, niemals aber, dass er verspätet zur Orchesterprobe erschien.
Mehr als einmal schon hatte er wegen einer solchen Verspätung ein ganzes Konzert ausfallen lassen und die vom Veranstalter eingeforderte Vertragsstrafe und dazu noch die Kosten für seinen Rechtsanwalt und ein Schmerzensgeld wegen Schädigung seines Rufes, an den Verursacher dieser Absage weitergereicht. Denn das schien jedem Gericht einsehbar, dass ein Mann seiner Bedeutung es sich nicht leisten konnte, ein Konzert zu dirigieren, bei dem es zwischen ihm und dem Solisten zu Missverständnissen kam, weil nicht genügend Zeit geblieben war, sich aufeinander einzustellen.
Das Haus würde sie verkaufen müssen, wusste sie, ihren Flügel, das Grundstück, und Pentschowius würde nun wirklich niemals mehr bei irgendwem ein gutes Wort für sie einlegen wollen. Denn nach solch einem Reinfall konnte er endgültig die Hoffnung aufgeben, sein fünfzehn Jahre währendes Bemühen um sie, durch einen sensationellen Erfolg vergolten zu bekommen.
So hatte sie sich bereits in eine nahezu panische Mutlosigkeit hineingesteigert, die ihr keinerlei logische Gedankenverbindungen mehr ermöglichte, geschweige sie befähigt hätte, irgendeine von außen an sie herangetragene Anregung aufnehmen zu können, als ein Mann, bekleidet mit einer pinkfarbenen, glänzenden Kniehose, weißen Strümpfen, einem violetten, frackähnlichen Jäckchen, Rüschenhemd und weißer Zopfperücke sein mit Packtaschen beladenes Fahrrad gegen einen der geöffneten Flügel des Hoftors lehnte und mit der Frage: „Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein?“ auf sie zukam.

     
     
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