Keine Chance zur Flucht
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


„He“, sagte der Mann und grinste.

Elisabeth Scheerbaum drehte sich um. Eine Häuserwand links, eine Häuserwand rechts, dazwischen ein buckliger, im trübgelben Licht einer einsamen Straßenlampe speckig glänzender  Asphalt, und erst in fünfzig oder hundert Metern Entfernung die Kreuzung aus der sie in die Gasse eingebogen war. Nicht einmal einen Hauseingang gab es dazwischen oder die Zufahrt zu einem Hof oder etwas in dieser Art. Keine Chance zur Flucht.

„Nein, keine Chance zur Flucht“, sagte auch der Mann. „Diesmal sitzt d u in der Falle.“

Warum bloß hatte sie den Hinweis des Reiseleiters in den Wind geschlagen: „Und bitte gehen Sie heute Abend nicht mehr aus dem Haus. Ich bin für alle verantwortlich. Und in dieser Gegend hier weiß ich nicht ...“ Aber sie hatte das einfach einmal wissen wollen, was das für ein Gefühl sein könnte, verloren in einer fremden Stadt. Und die Grundregel für Erkundungen auf eigene Faust, die er ausgegeben hatte, hatte sie eingehalten: „Bis zur nächsten Kreuzung links, dann wieder links, dann noch einmal links. So kommen Sie immer wieder zu Ihrem Ausgangspunkt zurück.“

Gut, sie hätte beim zweiten Links eine belebtere Straße wählen können, aber das war es ja, was sie gesucht hatte, eine einsame nächtliche menschenleere Gasse und als einziges Geräusch das pulsierende Rauschen des eigenen Blutes im Ohr. Der Kitzel einer Mischung aus Angst und dem beglückenden Gefühl, ihr widerstanden zu haben.  

Nun aber dieser Mann. Wo war der so plötzlich hergekommen? Sie hatte doch niemanden bemerkt als sie in die Gasse eingebogen war. Ja gewiss, sie hatte, über der Genugtuung, ihre Angst tatsächlich besiegen zu können, in einem Anfall von Übermut mit dem Mond zu spielen begonnen, der kreisrund und hell über dem schmalen Himmelsausschnitt zwischen den hoch aufragenden Häuserfronten stand und die Vorsprünge an den Dachkanten wie dunkle Zähne wirken ließ, die nach ihm schnappten, wenn sie sich rechts oder links gegen die Hausmauern drückte. Aber einen Mann, der ihr aus der Tiefe der Gasse entgegen gekommen wäre, hätte sie mit Sicherheit trotzdem bemerkt. Und entsprechend hätte sie sich vorbereitet. Den Hotelzimmerschlüssel in die Hand, so dass er zwischen Ring- und Mittelfinger aus der geschlossenen Faust herausragt und „wenn es brenzlig wird, ohne Bedenken die Schuhspitze mit voller Kraft direkt zwischen die Beine“, wie ihr Bruder erklärt hatte, nachdem sie als Fünfzehnjährige einmal spät nachts, von einem Mann verfolgt worden war, der immer wieder: „Gib mal Feuer, Mädchen“, raunte, bis sie einfach an einer Haustür stehen geblieben war und geklingelt hatte. - „Da hätte er sein Feuer gehabt.“

Aber das war lange her und sie wusste auch nicht, ob sie das wirklich würde tun können, den Fuß heben und zutreten. Außerdem war das damals ein alter Mann gewesen, ein kleiner alter Mann. Dieser hier aber war ein großer Mann, ein großer junger Mann, mindestens einen Kopf größer als sie und mindestens fünf Jahre jünger. Eigentlich ein richtiges Jungchen noch. Zumindest sah er so aus. Und wenn er nicht so gegrinst hätte, hätte sie direkt denken können, dass er so aussehe, wie sie sich immer gewünscht hatte, dass einer aussehen solle, der eines Tages zu ihr sagen würde: „Was interessiert mich, dass du schielst, was interessiert mich, dass du nichts hast, womit man vor anderen angeben kann. Ich will dich, wie du bist, weil du so bist, wie du bist.“

Der Mann aber sagte: „Ja, das hast du bestimmt nicht gedacht, dass du mir noch einmal begegnen könntest. -  Stimmt’s, das hast du nicht gedacht? – Aber ich hab das gedacht. Immer hab ich das gedacht. Das Schielauge das läuft dir noch mal über den Weg, hab ich gedacht und hab mir dabei vorgestellt, was ich dann mit dir anstellen werde. - Zweieinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Aber an Istanbul hab ich dabei auch nicht gedacht. Das muss ich zugeben. - Was machst du hier? Hast du Urlaub oder haben sie dich wieder auf jemanden angesetzt? - Das ist übrigens ein wirklich genialer Trick, eine Type wie dich. Das eine Auge guckt hier hin, das andere dort. Wie soll da einer denken, dass du bei den Bullen bist?“



     
     
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