Kleine schwarze Taschen
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     



Nichts besseres hätte Willi Wichtel passieren können: „Würden Sie bitte, bitte mal einen Augenblick auf das Kind aufpassen?“ und dann den Rollkoffer, den sie die ganze Zeit hinter sich her gezogen hatte, fünf Stufen hoch zum Eingang des im Hochparterre des Hauses Nr. 17 gelegenen Waschsalons. Dort noch mit der Schulter gegen die gläserne Tür und weg waren die Pippi-Langstrumpf-Zöpfe und die Pluderhosen, denen er vom Geldautomaten am Ziegentor über zwei Fußgängerampeln, die Einkaufs-meile entlang und dann durch die sinnigerweise Diebstraße ge-nannte schmale Schlippe gefolgt war, durch die man auf kürzestem Wege zu den Häuserblö-cken am Haffbrunnen gelangte. Aber immerzu Leute. Nicht so viele, dass man zwischen ihnen verschwinden konnte, noch ehe irgendwer begriff, worum es ging, sollte da ein Schrei ausgestoßen werden, aber eben doch mehr, um sicher sein zu können, dass einem nicht etwa ein Bein in den Weg gestellt wurde, falls es nötig wäre, die Schritte auffallend zu beschleunigen. Und eigentlich war er schon entschlossen gewesen, die Unternehmung abzubrechen und über den Zugang zum Haus Nr.19 von dem er wusste, dass das Schloss der Tür nicht einrastete, wenn man sie nicht extra zuzog, und von dort über den dahinter gelegenen Zwischenhof und den Flur eines der Häuser in der Sandstraße zum Rathausplatz zurückzukehren, als ihn dieses: „Bitte, bitte“ nun doch noch in die Lage setzte, seine Hand blitzschnell unter das bauschige Deckbett des Kinderwagens stecken zu können, wo, wie er wusste, eine kleine schwarze Ledertasche lag, in die zuvor ein Bündel Geldscheine gestopft worden war. Womit ihm dann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur die von ihm als Limit angesehene Sum-me für einen Tag zufallen würde, sondern möglicherweise sogar die für eine ganze Woche, wenn nicht gar für einen Monat. Was ihn dann der Notwendigkeit enthob, bereits schon am nächsten Tag wieder losziehen zu müssen. Er war nicht sehr anspruchsvoll und er hatte seine Prinzipien. Keine Hektik. Keine unkalkulierbaren Risiken. Nicht durch zu leicht errungene Erfolge verführen lassen. Ein Zugriff in dem für den jeweiligen Tag ausgewählten Revier und wenn der Ertrag nicht reichte, sofort zu einem anderen Revier wechseln. Vor allem aber das Umfeld kennen, zum Beispiel, wo, welche Tür nötigenfalls problemlos zu passieren war und welche nicht. So kam er schon seit fünfzehn Jahren durch und war wohl vor allem deshalb nicht ein einziges Mal auch nur in die Nähe eines Verdachts gekommen. Ja, er meinte sogar, davon ausgehen zu können, dass nicht einmal die anderen in seinen Revieren tätigen Angehörigen des kleptomativen Gewerbes ahnten, dass er zu ihnen gehörte, während er selbst dagegen sehr wohl wusste, wer alles dazuzurechnen war, wie jeder von ihnen vorging, wann sie unterwegs waren und wo sie sich zuweilen trafen, um sich über Erfolge oder Misserfolge auszutauschen.

Von solchen Treffpunkten hielt er sich allerdings fern. Er war ein Einzelgänger, ein einsamer Wolf, der durch die Wälder strich und zubiss, wo leicht Beute zu machen war. Ein Rudel brauchte er nicht. Er hatte lange genug in Rudeln gelebt, um wissen zu können, dass Masse zum Prahlen und Protzen verführt und zur Verwässerung der eigenen Prinzipien. Im Kinderheim erst, dann im Lehrlingsinternat, zwei Jahre im Jugendwerkhof und dann noch bei Helm und Stiefel. Und überall: Ich bin der Größte, ich bin der Beste, ich bin der Tollste.

Auch von Frauen hatte er sich deshalb bislang fern gehalten. Auch da musste man immer der Größte, Beste und Tollste sein und die Prinzipien zählten weniger als der Hang, sich ihre Gunst erhalten zu wollen.

Nein, besser, man stand nur mit sich selbst vor sich selbst. Da konnte man auch mal zugeben, gut, es war ein Traum, der hat sich nicht erfüllt, es kommen andere Gelegenheiten.

Weshalb es ihm auch wirklich nicht schwer gefallen wäre, nach dem Passieren des Waschsalons einen Rechtsschwenk zu vollziehen, mit der Schulter gegen die nicht einrastende Haustür zu drücken und zum Rathausplatz zurückzukehren. Dort würden kurz vor sechs drei oder vier Reisebusse vorfahren und ihre Ladung Rentnerbeige ausschütten, worauf dann hundertfünfzig mit Gehhilfen und Rollatoren ausgerüstete Weltbefahrer zur Uhr am Pulverturm hinauf glotzten, wo mit dem sechsten Schlag ein Türchen aufsprang und der Teufel den Hintern herausstreckte.

Nun aber dieses: „Bitte, bitte.“ Und mit dem Rollkoffer die Treppen hinauf und ab hinter die Tür. Nein, etwas Besseres hätte ihm wirklich nicht passieren können. Und so blickte er noch einmal kurz prüfend voraus zum Eingang des Hauses Nr. 19, ob der Spalt an der Eingangstür auch wirklich um jene zwei Zentimeter breiter war, die garantierten, dass ein Druck mit der Schulter genügte, um im Hausflur verschwinden zu können, und setzte bereits den Schritt an, mit dem er dem bauschigen Deckbett des Kinderwagens nahe genug kommen konnte, als neben ihm mit quietschenden Reifen ein Polizeiwagen stoppte, zwei der Insassen heraussprangen, ihre Pistolen aus den Halftern zerrten, auf eben diesen Hauseingang zusprinteten, und, nach einem genau solchen Schulterdruck, darinnen verschwanden, während der Fahrer des Wagens mit betontem Gleichmut durch die vor ihm gelegene Frontscheibe blickte.

„Jetzt keinen Fehler machen“, dachte er da und begann zu überlegen, welche der Möglichkeiten, die ihm einfielen, ein Fehler sein könnte, als er schon wieder das „Bitte, bitte!“ zu hören bekam.

„Bitte, bitte! Nun auch noch den Wagen. Da ist noch eine Tasche mit Wäsche im Korb.“

Und als er dann dessen Räder auf dem Podest vor der Tür zum Waschsalon abgesetzt hatte und sich wieder aufrichtete, der sanfte Druck zweier Lippen auf seiner rechten Wange: „Danke!“ Wobei er zugleich sah, dass der Fahrer des Polizeiwagens den Kopf gedreht und den Oberkörper nach rechts geneigt hatte, und durch die Seitenscheibe der Beifahrertür zu ihm herüberblickte.

Aber es war nicht hauptsächlich dieser Blick, der ihn veranlasste, nun auch noch mit einem schnellen Schritt auf die Tür des Waschsalons zuzugehen, sie aufzudrücken, beiseite zu treten, damit der Kinderwagen hindurch geschoben werden konnte, und sie dann, nachdem auch er hindurch getreten war, von innen her zu schließen. Es war diese, dem Flügelschlag eines Schmetterlings vergleichbare Berührung zweier Lippen, die sich wie ein lockender Kitzel auf seiner Wange hielt und ihn verwirrt auf die Reihe silbern glänzender Maschinen blicken ließ, hinter deren Bullaugen sich irgendwelche Wäsche drehte.

Was war das gewesen?

Nein, nicht, was war das für ein Kuss gewesen? Was hatte er zu bedeuten? Hatte er wirklich ihm gegolten? Nein, was war dieses Andere, das, was ihn so verwirrt auf die Maschinenreihe blicken ließ, – mit diesem Kitzel auf der Wange auf die Maschinenreihe blicken ließ? – Ein Bild und eine Empfindung, die ihm auf seltsame Weise irgendwie vertraut vorkamen, so als habe er Gleiches schon einmal erlebt. Auf alle Fälle eine Glücksempfindung, eine Glücksempfindung, die die Sehnsucht nach Dauer weckte oder nach Wiederholung oder mehr.

Wobei dies allerdings nicht unbedingt etwas mit dieser Frau zu tun hatte, gar nicht zu tun haben konnte. Denn um solche Empfindungen auf sie richten zu können, war sie einfach zu jung, viel zu jung, beinahe ein Mädchen noch, wie er sah, als sie jetzt: „Ach, Sie wollten wohl sowieso hierher?“, fragte. Nur, dass ihre Augen verblüffend erwachsen wirkten, oder besser erfahren oder vielleicht doch eher abgeklärt. Wissend jedenfalls. Wie auch nicht? Hatte sie doch bereits ein Kind.

Und als er: „Nein“, entgegnete. „Aber Sie müssen das alles ja auch wieder nach unten bringen“, lachte sie und sagte: „Das kann aber dauern.“

„Ich habe Zeit.“

Und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er schon die ganze Zeit nicht mehr an die kleine schwarze Ledertasche gedacht hatte, die unter dem dicken Deckbett lag, das sie jetzt lüftete, weil das Kind zu knuckern begann, und dann: „Oh, er stinkt“, sagte. „Halten Sie mal!“ Und ihm das Bett zureichte, wobei auch die Tasche freigelegt wurde, genau an der Stelle freigelegt wurde, an der er sie vermutet hatte, so dass sein Griff gewiss nicht ins Leere gegangen wäre.

„Ich mach das mal schnell.“

Und schon hatte sie aus dem Korb unter dem Wagen einen Beutel mit Windeln und Feuchttüchern gegriffen und legte eine Decke auf einen der Tische, auf denen man die Wäsche zusammenlegen und verpacken konnte und wischte dort und cremte und hoste das Kind wieder an, wobei sie ihm unentwegt etwas zuzwitscherte, was dieses mit ebenfalls wie ein fröhliches Gezwitscher klingenden Lauten beantwortete. Während er mit dem ihm nun die Brust wärmenden Deckbett auf dem Arm immer noch auf die sich hinter den Bullaugen der Maschinen drehende Wäsche schaute. Nur, dass er dieses Gefühl eines lustvollen Kitzels nicht zu bewahren vermochte, den die Berührung der Lippen dieser Frau auf seiner Wange zurück gelassen hatte.

Trotzdem sagte er: „Ich glaube, seit heute weiß ich, dass auch ich eine Mutter gehabt haben muss“, nachdem sie das Kind wieder in den Wagen gelegt, ihm das Deckbett abgenommen und noch einmal: „Danke!“ gesagt hatte. Diesmal allerdings ohne Kuss.

„Wieso? – Hatten Sie keine?“

„Bis heute dachte ich das jedenfalls.“

„Das versteh ich nicht.“

„Na, es war einfach keine da, niemals. Jedenfalls so lange ich denken kann nicht. Ich bin im Kinderheim aufgewachsen. – Kinderheim, Lehrlingsinternat, Jugendwerkhof.“

„Und wieso denken Sie das jetzt nicht mehr?“

„Weil Sie mich geküsst haben.“

„Ich hab Sie geküsst?“

„Na, vorhin, nachdem wir den Wagen hier hoch getragen hatten.“

„Ach du liebes mein bisschen! Das hat doch nichts zu bedeuten. Das mach ich immer so.“

Wobei unter ihren Augen eine Reihe Sommersprossen aufblühte, die ihm wie ein Häufchen für Vögel zum Aufpicken hingestreute Linsen erschienen. Unter ihren seltsam großen, meergrünen Augen, wie er nun auch noch bemerkte.



     
     
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