Koriander
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Er fuhr den Computer herunter und zog sich um. Weißes T-Shirt und sandfarbene Jeans. Dann rief er: „Ich geh mal auf eine Runde um die Rennbahn“ und zog auch noch die weichen, ausgetretenen Slipper an. Joggingkleidung mochte er nicht. Als Herausgeber der „Losen Blätter zur Stadtgeschichte“ war er zu bekannt, um sich zum Feierabend, aufgeschmückt wie ein Papagei durch die Fußgängerzone drängeln zu können. Als er die beiden Schlösser an der Haustür aufschloss und die Kette aushängte, rief seine Frau: „Ich leg sie wieder vor. Musst klingeln, wenn du zurück bist.“ Und er sagte: “Okay!“ und schloss auch wieder zweimal ab. Das war nicht übertriebene Ängstlichkeit. Das schrieb die Versicherung so vor. Seine Frau restaurierte historische Bücher.
Als er die Schlüssel in der Hosentasche versenkt hatte und die ersten zwei Schritte gegangen war, bemerkte er vor dem Haus nebenan eine Frau. Sie stand vor dem Schaufenster des Antiquitätengeschäfts und blickte etwas unentschlossen zwischen dem Schild „Komme gleich wieder!“ an der Tür und den Auslagen hin und her. Und eigentlich hätte es gereicht, zu sagen: „Das hängt schon seit zwei Tagen da. – Ich glaube eher, sie machen überhaupt nicht wieder auf. Es läuft nämlich nicht an diesem Platz.“ Denn wenn er sich zuweilen auch darin gefiel, Frauen mit einem Anflug von Galanterie auf sich aufmerksam zu machen, Frauen dieses Alters gehörten nicht dazu. Ein bisschen jünger als er mochten sie schon sein. Und außerdem zog er einen Typ vor, der mehr auf die eigene Ausstrahlung setzte als auf die Künste der Kosmetikerinnen und Friseusen. Aber irgendetwas war an dieser Frau, das ihn doch verhalten ließ, als er sie erreicht hatte. Und deshalb sagte er noch: “Was hätte es denn sein sollen?“, ehe ihr Duft ihn traf. Es war kein Duft, der ihn über die Nase erreichte, es war ein Duft, der sich wie eine Glocke über ihn zu stülpen schien und durch die Poren in seinen Körper drang. Denn er stand, während sie antwortete und dabei immer noch ihren Blick zwischen den Auslagen und dem Schild an der Tür hin und her wechseln ließ, als habe ihm jemand die Füße an den Boden genagelt.
„Ach, eigentlich nichts weiter“, sagte sie. „Nur diese kleinen weißen Dinger dort. Diese Porzellanringe für die Gardinenschnur. – Ich bin zum Geburtstag einer Freundin eingeladen, und mehr als ein Verlegenheitsgeschenk ist mir nicht eingefallen. Das aber wäre es gewesen. Sie schneidert nämlich, müssen Sie wissen, Kleider, ganz ausgefallene Sachen, aber todschick. – Man könnte sich in jedes einzelne verlieben.“ Und wandte dann den Blick und schaute ihn an. Wobei er sah, wie auch durch ihren Körper ein Ruck zu gehen schien und auf ihren Wangen winzige rote Kreise aufblühten. Und es schien eher eine Stimme aus ihm heraus zu sein als seine eigene Stimme, die dann sagte: „Da könnte ich vielleicht helfen.“
Er hatte zwei Straßen weiter eine Garage in einem Haus, dessen ehemalige Besitzerin im Altersheim gestorben war. Das war noch vor dem Holterdiepolterwechsel von der sozialen Murkswirtschaft zur kapitalen Machtwirtschaft gewesen, wie er immer sagte, als alte Häuser noch zu Spottpreisen zu haben waren, aber keiner sie wollte. Denn es war einfacher, in einem Plattenbau zu wohnen, als nach Baustoffen über Land zu fahren und vor Handwerkern auf den Knien zu liegen. Deshalb auch hatte sich die alte Frau um einen Platz im Altersheim bemüht. Und als er fragte, wie es denn dann mit der Garage zu halten sei, hatte sie geantwortet: „Bezahlen Sie mal das Wasser und den Strom und dann werden wir schon sehen.“
Dann aber war sie gestorben und dann herrschte Schweigen, erst noch vor dem Holterdiepolter und dann auch danach, seit zwanzig Jahren schon. Und auch er schwieg. Er bezahlte den Strom. Er bezahlte das Wasser. Er lehrte den Briefkasten, putzte die Scheiben, strich die Fenster, zog einmal die Gardinen vor, einmal zurück und baute Intervallschalter ein, die das Licht zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Räumen aufleuchten ließen. Denn er wusste, ein Haus, das als unbewohnt zu erkennen war, blieb nicht lange ohne Besuch. Erst wurden die Scheiben eingeschlagen, dann fanden sich Leute, die nach alten Möbeln suchten und dann fehlten schon bald die Türen und die Fußbodendielen. Seine Garage würde da nicht ausgenommen werden? War sie doch leicht durch eine Tür vom Hausflur aus zu erreichen.
So war es gewissermaßen eine Art Tabubruch, als er der Frau vor dem Antiquitätenladen erzählte, er habe Zugang zu einem Haus, in dem sich noch solche Ringe an den Gardinenschnuren befänden, und es würde keinen stören, wenn er einige davon abschneide. - „Es ist gleich um die Ecke.“
Worauf sie antwortete: „Nun, dann gehen wir doch.“

     
     
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