Mortaler Ausgang
13 bitterböse Geschichten, 2020
Leseprobe    


Fräulein Müh


Das Fräulein Müh war eine der so genannten Verlobtenwitwen, über deren Schicksal nach Ende des Krieges die »verschont« gebliebenen Frauen im Beisein von Kindern meist nur im raunenden Flüsterton sprachen. Sie hatten Mitleid mit ihnen und fürchteten sie zugleich, denn sie wussten den leidendhungrigen Blick zu deuten, der vorsichtig von unten her über die Gesichter der Männer huschte, ehe er sich während des Gesprächs wieder auf einen Punkt irgendwo zwischen Kinn und Schulter heftete, wenn man ihnen zu zweit oder im Familienpack begegnete. Einen Mann kaum erfahren, hatten sie ihn schon verloren und wussten, dass sie dazu verurteilt waren, unerfüllt zu bleiben, ein Leben lang. Denn von den Männern, die das Glück gehabt hatten, zurückzukommen, waren die wenigsten »frei«, viel weniger als es »freie Frauen« gab und die »nicht freien Männer« wurden von den zugehörigen Frauen wie mit Krallen und Zähnen verteidigt, selbst wenn sie für manche von ihnen mehr Last als Lust bedeuteten.

Umso verwunderlicher, dass Willi nach oben zum ausgebauten Dachboden geschickt wurde, wenn sein Vater nach dem Abendessen mit kaum geöffneten Lippen: »Können ja die Müh zum Fernsehen einladen«, gemurmelt und die Mutter zustimmend das Kinn gesenkt hatte. Wobei der Vater das »Müh« eher wie ein »Mie« aussprach, was dem Ruf nach einer Katze glich und deshalb für einen Augenblick über der Stille am Tisch ein leises Schnurren zu schweben schien, ehe die Mutter ihr Kinn in Richtung Küchentür zucken ließ und Willi vom Stuhlsitz rutschte, um die Nachricht zu überbringen. – »Fräulein Müh, Sie können zum Fernsehen kommen.« –

Dass sein »Müh« dabei ebenso wie ein »Mie« klang, hatte mit der zweiten Verwunderlichkeit zu tun. – Das Fräulein Müh kam auch zum Baden.

Denn es gab in ihrer Wohnung unter dem Dach zwar einen Raum, in dem eine Wanne Platz gehabt hätte, ein Badeofen ließ sich dort aber wegen der Dachschräge nicht aufstellen.

»Könnten ja die Müh wieder mal baden lassen«, sagte Willis Mutter deshalb ab und zu. Und wenn dann der Vater das Kinn senkte, sprintete Willi auch ohne besondere Aufforderung die Treppen hinauf.

Möglich, dass die Mutter, was das Fernsehen betraf, der Meinung war, so alles besser im Blick zu haben, was das Baden betraf, überwogen aber ökonomische Erwägungen. War es doch in jenen Jahren noch allgemein üblich, das warme Badewasser möglichst mehrmals zu nutzen. Und Fräulein Müh heizte, wenn sie zum Baden kam, den Badeofen mit den eigenen Kohlen. Weshalb Willis Mutter dann auch jedes Mal: »Na, wenn Se meen’«, antwortete, wenn nach einer halben Stunde Geplätscher und Gesumm die Badezimmertür einen Spalt breit geöffnet wurde und von dort her der Ruf: »Soll ich glei den Willi noch waschen?« über den langgestreckten Flur bis zur Küche drang.

Das war schon so, als Willi noch keine neun Jahre alt gewesen war. Und auch damals hatte er dabei schon mit unruhig zuckenden Beinen am Küchentisch gesessen, wohin ihn die Mutter immer beorderte, nachdem sie ihn einmal dabei ertappt hatte, wie er sich an der Tür, hinter der es plätscherte und summte, zum Schlüsselloch bückte. War aber Fräulein Müh aus der Wanne, befürchtete sie offenbar keine seinen Seelenfrieden beeinträchtigenden Einblicke, und dass möglicherweise er Fräulein Mühs Seelenfrieden durcheinander bringen könnte, lag so weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass sie in all den Jahren, in denen diese ihn wusch, nicht ein einziges Mal kontrollieren kam, ob sie das auch richtig mache.

»Na, wenn Se meen’«, also, und wenn der Türspalt dann um ein für Willis Schulterbreite ausreichendes Maß erweitert worden war, schlüpfte er in den von Dampf und Lavendelduft geschwängerten, schlauchartigen Raum, in dem ihn Fräulein Müh in einem durch einen Gürtel zusammengehaltenen Bademantel und mit einem um den Kopf gewickelten Handtuch erwartete.

»Aber geplanscht wird nich!«, sagte sie dann noch, ehe sie die Tür wieder schloss, und er hob die Arme empor, dass sie ihm das Hemd über den Kopf ziehen konnte. ...
     
     
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