Nicht dran rühren
(Auszug aus dem Roman „Peter Schwarzer – Ein Lebensbericht)
Es war im Winter des Jahres 1975. Ich war vierzehn und war mit Norbert
und Lisa, meinen Pflegeeltern zum Schi laufen in die Niedere Tatra gefahren.
Norbert war Dozent an der Militärhochschule in Dresden und sah in
mir einen zukünftigen Fußballnationalspieler heranwachsen.
Lisa arbeitete als Ökonomin in irgendeinem Industriebetrieb und sah
in mir den Ersatz für den ihr durch einen Unfall verwehrten Wunsch
nach einem eigenen Kind und, wie sich später herausstellen sollte
für auch noch andere verwehrte Wünsche. Doch spielt das für
diese Geschichte keine Rolle. Obwohl mit ihr eigentlich eine Erfahrung
verbunden ist, die nicht wenig dazu beitrug, dass sich Lisas Wünsche
schließlich doch erfüllen sollten. Wenn auch nur zeitweilig.
Aber lassen wir das.
Wir waren also zum Schi laufen in die Niedere Tatra gefahren, obwohl Lisa
Schnee nicht mochte. Aber Norbert und mir zuliebe fuhr sie immer wieder
mit und las dann ein Buch nach dem anderen, während er mich über
Berg und Tal jagte. Denn er meinte, dass für mich der Aufbau von
Dauerleistungsfähigkeiten notwendiger sei, als die beim Abfahrtslauf
zu erwerbende Körperbeherrschung. Abend für Abend schaute er
sich deshalb im Fernsehen den Wetterbericht an und plante dann die Route
für den nächsten Tag. Wobei er durchaus darauf bedacht war,
mich nicht zu überfordern. An einem Tag aber hatte er wohl den Wetterbericht
falsch interpretiert. Oder er hielt mich für leistungsfähiger
als ich war. Jedenfalls sagte er unterwegs an einer Wegekreuzung: „Ach,
wir fahren mal noch den kleinen Schlenker über die grüne Markierung.“
Und weil es zunächst lange bergab ging, ließ sich das auch
ganz gut an. Dann aber setzte plötzlich heftiger Schneefall ein.
Die Spuren der vor uns gelaufenen Schifahrer verschwanden und unsere eigenen
blieben kaum länger zu sehen, als wir brauchten, um die Skistöcke
von hinten nach vorn zu setzten. Und irgendwann waren dann auch keine
Wegemarkierungen mehr zu finden.
Zwar sagte Norbert: „Ruhe bewahren. Wir sind nicht am Nordpol. Wir
sind im Zentrum Europas. Zur Not bauen wir uns eine Schneehöhle.“
Aber ich wusste, dass sie in der Baude gerade vor solchen zusätzlichen
Schlenkern immer wieder gewarnt hatten: „Gehen Sie nie eine Tour,
die sie nicht aufgeschrieben haben. – Wenn Sie zu suchen sind, muss
man wissen, wo.“ Auch von Bären und Wölfen wurde erzählt.
Und im Jahr zuvor war wirklich einer „verschütt gegangen“,
wie der Leiter der Baude sagte. „Im Frühjahr, im Nebel. Und
bis heute keine Spur!“
„Vielleicht ist er bei jemandem im Kofferraum über die österreichische
Grenze“, hatte Norbert da noch gewitzelt. Jetzt aber sagte er: „Das
Wichtigste ist, wir bleiben zusammen.“
Als es schließlich dunkel wurde, bauten wir uns dann wirklich eine
Schneehöhle. Wir suchten uns eine umgestürzte Tanne, brachen
ein paar der nach unten ragenden Äste ab, um Platz zu schaffen, und
polsterten den Boden mit Zweigen aus. Doch kamen wir dabei ziemlich in
Schweiß und das war nicht gut, wie wir bald merken sollten. Je länger
wir saßen, umso mehr begannen wir zu klappern, weil die Feuchtigkeit
unter unserer Kleidung kalt wurde. Und ich begann darüber nachzudenken,
wie treffend die Formulierung „verschütt gegangen“ sein
konnte. Da meinte Norbert, einen Hund zu hören.
Ich dachte natürlich zuerst, es sei ein Wolf, denn mir schien es
mehr ein Heulen zu sein, als ein Bellen, was da von fern durch die Dunkelheit
drang, doch dann wandelte es sich von einem lang gezogenen Wimmern zu
einem aufgeregten Kläffen und da meinte auch ich, dass es eindeutig
ein Hund sei. Worauf Norbert aus der Höhle kroch, die Hände
wie Trichter vor den Mund legte und mehrmals: „Hoho!“ rief.
„Hier sind wir! Wir sind hier!“
Dann schnallten wir die Ski an und stapften quer durch den Wald auf das
Gebell zu.
„Hoho! Hoho!“ rief Norbert dabei immer wieder. „Hier
sind wir! Wir kommen!“ Denn er war überzeugt, der Hund könne
nur ein Hund der Bergwacht sein, die uns suche. Und der Hund antwortete
mit deutlicher werdendem Gebell. Und als dann irgendwann ein: „Hohoo!“
zurückgerufen wurde, fielen wir uns in die Arme und schrieen beide:
„Ja, ja. Wir sind hier. Wir sind hier. Wir kommen.“
Wenig später sahen wir dann ein Licht, das geschwenkt wurde. Und
es begann ein Abenteuer, das zu den seltsamsten meines ganzen Lebens gehört.
Der das Licht schwenkte, war ein Mann im Anzug mit Schlips. Er stand unter
dem Vordach einer hölzernen Berghütte und in der Tür hinter
ihm stand ein Mädchen, kaum älter als ich, aber auf eine Weise
schön, dass ich, wäre sie blond gewesen, bestimmt gemeint hätte,
das Hundegebell und das Stapfen durch den Schnee habe es in Wirklichkeit
gar nicht gegeben. Es sei nur ein Traum gewesen, der uns das Hinüberdämmern
vom Leben in den Tod erleichtern sollte. Und nun wären wir im Himmel
angekommen. Denn, wenn ich auch schon damals nicht an Gott glaubte, dass
es einen Himmel gäbe, in den man nach dem Tode einginge, um dort
weiter zu leben, schien mir schon irgendwie wünschenswert. Wie sonst
hätte die Vorstellung in meinen Kopf geraten können, dass dieser
von Engeln bevölkert sei, alle blond und alle ausnehmend schön
und alle etwa in meinem Alter.
Das Mädchen hinter dem Mann aber war nicht blond, sondern schwarz,
kohlrabenschwarz, mit einem langen, ihr vor der Brust bis über den
Nabel hinab reichenden Zopf und einem Blick, der mir von den Augen über
die Kehle bis zu den Knien hinab zu schießen schien.
Den aber schoss es nur ein einziges Mal gegen mich ab, in dem Augenblick,
in dem Norbert: „Sdrasdwujtje, Tawarischtsch!“ sagte. Dann
drehte es sich schon um und zog sich in die Hütte zurück, wo
sofort irgendwelche metallenen Gerätschaften zu klappern begannen.
Warum Norbert: „Sdradwujtje!“ sagte und nicht: “Dobrý
den!“, und ihm auch auf Russisch, statt auf Tschechisch oder Slowakisch
geantwortet wurde, bleibt für mich unerfindlich. Wie sich überhaupt
alles, was mit dieser Nacht und dem darauf folgenden Tag im Zusammenhang
steht, einen Hauch von Unerfindlichkeit bewahrt hat, so oft ich auch darüber
nachdenke. Und auch Norbert war nicht bereit gewesen, mir irgendwelche
erhellenden Auskünfte zu geben. Denn als ich ihn später einmal
fragte, antwortete er nur: „Nicht dran rühren. Es gibt Dinge,
von denen man besser gar nichts weiß.“
Seltsam genug war es jedenfalls von Anfang an, der Mann mit Schlips und
Anzug vor der Berghütte im Schnee, der Hund, der zu Bellen aufhörte,
sobald wir aus dem Dunkel des Waldes getreten waren, das schwarzhaarige
Mädchen, das sich sofort umdrehte und in der Hütte mit eisernen
Gerätschaften zu klappern begann, und Norberts wie selbstverständlich
genutztes Russisch, mit dem ihm genauso selbstverständlich geantwortet
wurde.
Nun gut, Norbert war schon öfter zu irgendwelchen Schulungen in Moskau
gewesen und das Russisch ging ihm flotter von den Lippen als Tschechisch
oder Slowakisch. Und so konnte er in der Freude über unsere Rettung
einfach vergessen haben, wo er sich befand. Aber warum wurde ihm auf Russisch
geantwortet? Und warum sprachen die beiden Männer auch danach nur
russisch miteinander? Wo wir uns doch sonst in der Tschechoslowakei immer
versteinerten Gesichtern gegenüber sahen, wenn wir versuchten, ein
Anliegen auf Russisch vorzutragen.
Aber über dies alles habe ich eigentlich erst viel später nachzudenken
begonnen. Damals war ich zunächst nur von einem Gefühl unsäglichen
Glücks beherrscht. Eben noch hatten wir gedacht, dass wir die Nacht
nicht überleben würden, und plötzlich war es warm. Und
Menschen waren da. Und in meinen Knien saß ein Gefühl von erlösender
Mattigkeit, von dem ich wusste, dass es nicht nur von dem anstrengenden
durch den Schnee Stapfen herrührte. Mehr schien vom Leben nicht zu
erwarten.
Aber vielleicht hatte ich auch einfach schon das Fieber im Leib und nahm
alles, was um mich her vorging, nur noch mit eingeschränkten Sinnen
wahr.
Das Fieber überfiel mich noch während wir am Tisch saßen
und die Suppe löffelten, eine wahnsinnige heiße und wahnsinnig
scharfe Suppe wie mir schien. Die hatte das Mädchen vom Herd her
auf den Tisch getragen, in einem großen, dunklen eisernen Topf.
Und es war eine solche Menge, dass sie bestimmt nicht nur als Abendmahlzeit
für die Beiden allein gedacht gewesen war. Dazu gab es lange weiche
Weißbrotscheiben und für Norbert und den Mann ein Glas Schnaps,
das mir von der Größe her eher als Bierglas geeignet schien,
und das sie mit: „Na drushby!“ bis zum Grund austranken, ehe
sie sich gegenseitig mit den Worten: „Maladjetz! Welikij maladjetz!“
auf die Schultern schlugen. Während mir ein zweiter, sich bis zu
meinen Knien hinab bohrender Blick zugestanden wurde, zu dem diesmal allerdings
ein Lächeln hinzukam, ein winziges, von zwei wie nur heimlich gekräuselten
Lippen ausgesandtes Lächeln, über dem zugleich ein Schatten
zu liegen schien. Aber der konnte auch von dem Flaum winziger dunkler
Haare herrühren, der sich deutlich über der Oberlippe abzeichnete,
was bei mir eine beinahe schmerzhafte Sehnsucht nach körperlicher
Nähe und Zärtlichkeit auslöste. Dann kippte ich vom Stuhl.
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