Scheureh
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Als Nando Rosskopf der jungen Frau mit der Narbe unter dem linken Auge zum siebenten Mal im Wartezimmer seines Zahnarztes begegnete, beschloss er, sie endlich einmal anzusprechen, zumal sie nur zu zweit waren und sie, ebenso wie schon beim ersten Mal, als sie ihm aufgefallen war, ihre Bluse falsch zugeknöpft hatte. Für den obersten Knopf der Knopfleiste hatte sich beim Zuknöpfen kein freies Loch an der Knopflochleiste mehr gefunden. Was sie aber offensichtlich nicht bemerkt hatte. „Entschuldigen Sie“, sagte er deshalb, „ich weiß, es ist nicht angemessen, wenn ein Mann in meinem Alter einer Frau in Ihrem Alter so etwas sagt, aber es mindert Ihre ansonsten überaus passable Ausstrahlung erheblich: Sie haben Ihre Bluse nicht richtig zugeknöpft.“ Und er war dabei extra darauf bedacht, dass sein Gesicht nicht etwa jene Art von Lächeln zeigte, von dem seine Frau sagte: „Du grinst wie ein Pavian, der ein Weibchen aus dem Blickfeld des dominanten Männchens zu locken versucht.“ – Sie liebte es, ihn mit Vergleichen dieser Art darauf hinzuweisen, dass sie seinen Hang, die Aufmerksamkeit anderer Frauen auf sich zu ziehen nur in gewissen Grenzen zu akzeptieren bereit war. Wusste sie doch, dass er nicht nur wegen seiner Position sondern auch wegen seiner Erscheinung Begehrlichkeiten zu wecken vermochte, die ihn in Gefahr brachten, zu vergessen, dass letztlich alles immer wieder auf dasselbe hinaus lief: Hochkochende Emotionen, Ernüchterung, reumütige Selbstverdammung, Langeweile, Ekel. Weshalb er auch in diesem Fall keinen Zweifel daran aufkommen lassen wollte, dass ihm an mehr als einem freundlich dankbaren Aufblicken nicht gelegen war. Obwohl sich andere Ambitionen eigentlich schon wegen des unübersehbaren Altersunterschieds zwischen ihm und dieser Frau ausschlossen. Sie hätte seine Tochter sein können. Aber sie reagierte dennoch wie eine Wölfin, die sich von einem Rüden bedrängt fühlt, den sie als nicht geeignet für eine qualifizierte Aufwertung ihrer genetischen Anlagen bei der Weitergabe an einen zu zeugenden Nachwuchs ansieht: „Was geht denn dich das an? Kümmere dich um deine Sachen!“ Worauf er verstört: „Entschuldigung“, stammelte. „Entschuldigung, ich dachte nur …“ Und dazu bedauernd beide Hände hob. „Quatsch, Entschuldigung“, bekam er aber zur Antwort. „Ich weiß doch was dahinter steckt. Was habt ihr mir denn auf die Bluse zu glotzen ihr alten geilen Böcke?“ Was ihn nun völlig aus der Fassung brachte, da er merkte, wie ihm, einem ertappten Sünder gleich, das Blut ins Gesicht schoss, während er nach einer angemessenen Entgegnung suchte. Doch ehe er noch zu entscheiden vermocht hatte, ob er einfach nur schweigen oder doch einen Satz formulieren solle, der die Lauterkeit seines Hinweises unterstreichen könne, wurde sie in eines der Behandlungszimmer gerufen. Und nun hörte er zum ersten Mal auch ihren Namen. – „Frau Scheureh.“ – Was ihn noch mehr verunsicherte. Stand dieser Name doch geradezu diametral der Bezeichnung entgegen, die ihm als erste Reaktion auf ihren so unerwarteten Angriff eingefallen war: „Blöde Kuh!“ Ja, „Blöde Kuh!“, dies schien ihm als geeignete Entgegnung auch so lange noch angemessen, wie sie, ohne ihn auch nur eines Blicks zu würdigen, mit unsicherem Schritt, auf sichtbar, um einiges zu hoch gewählten Absätzen davon tackelte. Und er dachte, genau das und nichts anderes würde er auch sagen, wenn sie zurückkäme, um ihre Jacke von der Garderobe zu holen, wurde sich dann aber bewusst, dass dies eher dem von ihr vorgegebene geistigen Niveau entspräche, als dem, das er sich selbst zumaß, weshalb er dann nach Formulierungen zu suchen begann, die sowohl keinen Zweifel daran ließen, dass er sie für eine blöde Kuh hielt, zugleich aber auch seine Entschlossenheit unterstrichen, sich von ihr nicht auf ein Niveau des verbalen Austausch herabziehen zu lassen, das seinem Anspruch auf Selbstachtung entgegen stand. „Äußerst charmant, junge Frau, ihre Reaktion vorhin, wirklich charmant“, fiel ihm dabei etwa ein oder: „Ob ein Zahnarzt wirklich der richtige Helfer ist für Ihre wohl auf eine schlechte Kinderstube zurückzuführende Ausdrucksweise, wage ich zu bezweifeln.“ Doch er wurde selbst in eines der Behandlungszimmer gerufen, ehe sie entlassen wurde. Und als er dann seine Jacke holte, war ihre nicht mehr da.

     
     
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