Peter Schwarzer
Roman, 2008
     

Seite 107 ff.

Doch dann kam ein weiteres Auto von Schönhufe her gefahren und hielt bei mir an. Und das enthob mich dann aller Grübeleien über meinen künftigen Aufenthaltsort oder die Zukunftspläne, die auf der Grundlage der mit der Berufsbezeichnung „Teilfacharbeiter Holzbearbeitung“ umschriebenen Fähigkeit zu schmieden waren, Nägel in Holz zu schlagen.
Es war das Postauto und es hielt, weil mir ein Brief auszuhändigen war, gegen Unterschrift und mit Angabe der Personalausweisnummer auf dem entsprechenden Formular.
„Da haben wir aber Glück“, sagte die Frau dazu, die ausgestiegen war, um ihn mir zu übergeben, „Denn mit Nachschicken, das wäre ja wohl nichts geworden. – Das können Sie vergessen’, haben sie mir im Kloster gesagt. Solche wie der, die geben immer eine falsche Adresse an. Und dann lassen sie erst mal mit irgendwelchen Freunden die Freiheit hochleben. Und wenn das Geld alle ist, landen sie im Knast.’ – Stimmt doch, oder?“
Und ich antwortete: „Schon möglich“, ehe mir der Hauch eines Dufts in die Nase stieg, den ich kannte und der nicht Frau Scharfs Duft war. Weshalb ich merkte, wie meine Ohren zu glühen begannen und ich den Blick von dem wegzulenken versuchte, von dem er angezogen wurde.
Vierzig etwa war sie und hatte zwei unterschiedlich farbige Augen, ein grünes und ein braunes. Und die Haare standen ihr vom Kopf ab, als ob sie noch nie mit einem Kamm in Berührung gekommen wären.
Und als sie das Aufblühen meiner Ohren und dieses Weggleiten meines Blicks bemerkt hatte, sagte sie: „Ich könnte jemanden gebrauchen, der mir die Fenster streicht.“
Dann wartete sie. Und dann hob ich meine Koffer auf und trug sie hinter das Heck des blassgrauen Trabant Kombi, mit dem sie unterwegs war. Und schon zwei Stunden später saßen wir gemeinsam in einer Wanne und sie knetete ganz hingegeben mit ihren Fingern an meinen Ohren herum.
Vielleicht hat es mit einem größeren Reinheitsbedürfnis der Frauen mittleren Alters zu tun, dass sie das Spiel in der Wanne so lieben. Oder es findet sich diese Liebe nur bei jenen, die auch Genuss daran finden, solche Ohren wie meine zwischen die Finger zu nehmen. Ich weiß das nicht. Ich habe keine anderen Erfahrungen gemacht, als diese. Es waren immer Frauen mittleren Alters, die sich von diesen Ohren nicht abschrecken ließen. Jüngere Frauen oder Mädchen bekicherten sie. Laura und die Zigeunerin aus der Niederen Tatra einmal ausgenommen. Und den „Tüten“, wie Weißmacher, der später eine Rolle in meinem Leben spielen sollte, die Frauen nannte, die er bei den von ihm angeordneten alle oder keiner Aktionen „am Braten schnuppern“ lassen wollte, war es gleich, was einer für Ohren hatte. Für die zählte nur, dass die vereinbarte Summe vorher übergeben wurde und Zusatzleistungen wie das Kraulen von Ohren gehörte nicht zu der dafür vorgesehenen Leistung. Sonst aber hat es bisher nur Frauen in meinem Leben gegeben, die meine Mütter hätten sein können, wenn sie schon so zeitig wie meine Mutter in die Lage gekommen wären, Mutter zu werden. Und die liebten alle das Spiel in der Wanne.
Die Postfrau, Therese hieß sie, hatte sofort, nachdem wir bei ihr zu Hause angekommen waren, den Badeofen angeheizt. Und sie hatte auch von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihr nicht in erster Linie um das Fenster streichen ging.
„Eine Frau wie ich gehört bestimmt nicht zu dem, wovon einer in deinem Alter träumt“, hatte sie noch während der Fahrt gesagt, „aber bei mir kannst du lernen, wie es sein muss, wenn es wirklich gut sein soll. Besser du weißt das, ehe dir die, von der du träumst wieder davon läuft, weil du es nicht weißt. – Außerdem glaube ich nicht, dass du einer von denen bist, die nach dem Werkhof auch noch den Knast kennen lernen wollen.“
Und wenn auch die Umstände unter denen ich dort hineingeraten war, mir eigentlich hätten sagen können, dass dies nicht unbedingt davon abhing, was einer wollte, für diese Meinung war ich ihr dankbar, und so sagte ich noch einmal: „Ja, schon möglich“, während ich zugleich eifrig mit dem Kopf nickte.
An den Brief dachte ich erst am nächsten Morgen wieder, als sie schon losgefahren war, um in Steinbergen die Briefe und Päckchen in Empfang zu nehmen, die sie während des Tages in den Dörfern ringsum zu verteilen hatte. Und als ich ihn ihr am Abend zu lesen gab, sagte sie: „Holz für den Winter könnte ich auch noch gebrauchen.“
Es war die Aufforderung, mich zur Nachmusterung zwecks Einberufung zum Wehrdienst auf dem Wehrkreiskommando Steinbergen zu melden. Und sie ging auf eine Unterschrift zurück, die ich noch im Sportleistungszentrum auf ein vorgefertigtes Formular gesetzt hatte.
Mit dieser Unterschrift hatte ich mich zu einer Laufbahn als Berufsunterführer verpflichtet, was hieß, dass ich bereit war, einen zehn Jahre währenden Dienst in den Reihen der bewaffneten Organe des Ministeriums des Innern abzuleisten. Wobei dieser Dienst, wie mir bei dem entsprechenden Gespräch erläutert worden war, hauptsächlich aus dem Absolvieren der nötigen Trainigseinheiten und der Teilnahme an den Spielen der Mannschaften bestünde, denen ich dann zugegliedert würde. Eine weitere Steigerung meiner sportlichen Leistungen selbstverständlich vorausgesetzt.
Es war eine Unterschrift, die ich ohne Bedenken geleistet hatte. Und das war nicht nur auf dieses Versprechen zurückzuführen gewesen. Denn ich hatte mich auch schon aus eigener Überlegung mit dem Gedanken getragen, eine solche Laufbahn einzuschlagen. Schließlich war ich in der Zeit, in der sich meine Weltsicht herauszubilden begann, bei Norbert und Lisa aufgewachsen. Da schien die Entscheidung für einen solchen Entwicklungsweg schon beinahe zwangsläufig zu sein. Außerdem hatte ich bemerkt, dass sich, wenn ich heimlich Norberts Offiziersmütze aufsetzte und damit vor dem Spiegel posierte, meine Ohren doch etwas gefälliger zu meiner Gesamterscheinung fügten. Diese Mütze aber trug Norbert, sobald er das Haus verließ. Und ich hatte gerade in dem Jahr, in dem mein Kaderentwicklungsplan erstellt wurde, zu registrieren begonnen, dass Mädchen, so sie mir zu zweit oder in Gruppen auf der Straße begegneten, zu kichern begannen oder ältere Frauen sich zuflüsterten: „Ach, der arme junge Mensch!“, wenn ich an ihnen vorüber gegangen war.
Bereitschaftspolizei hatte dann auch die in diesem Gespräch festgehaltene Orientierung geheißen, was die Wahl der Waffengattung betraf, denn das Leistungszentrum gehörte zu den Fördereinrichtungen der Sportgemeinschaft Dynamo. Und die Einberufung bewies, dass der Kaderentwicklungsplan zumindest was meine Verpflichtung betraf nicht verändert worden war.
Termin zum Antritt des Dienstes: 9. Oktober. Das hieß, es blieben mir noch ganze zwölf Wochen.
Es waren schöne zwölf Wochen, denn Holzhacken war eine Tätigkeit, die sich vom Nägeleinschlagen in Kiefernholzbohlen nicht wesentlich unterschied. Nur dass es etwas abwechslungsreicher war, da jeder zu spaltende Kloben einen eigenen Charakter besaß und mir zum Feierabend statt des verkniffenen Gesichts von Herrn Wohlgethan, ein anerkennendes Lächeln winkte, wenn Therese nach Hause kam und den in Höhe und Breite gewachsenen Meiler aus handlichen Buchenholzscheiten begutachtete. Was heißt, auch ich war zu der Meinung gekommen, dass es besser wäre, wenn ich bliebe, wo ich war, statt mich auf unvorhersehbare Risiken einzulassen. Wer weiß, was mir zum Beispiel passieren konnte, wenn ich wirklich mit zwei Koffern nach Berlin fuhr und in dem Haus, in dem ich mit meinen Struweleltern gewohnt hatte, nachzufragen begann, ob es nicht irgendwen gäbe, der bereit wäre, mich für einige Wochen aufzunehmen. Denn dass es schon reichte, zwei Koffer unter einem einsamen Baum verstecken zu wollen, um Fragen beantworten zu müssen, deren Sinngehalt sich einem nicht erschloss und jede Antwort als Lüge bewertet zu sehen, hatte ich ja erfahren. Vor solchen Zufällen aber schien ich bei Therese sicher zu sein.

Das Haus, das sie bewohnte, lag etwas außerhalb eines einstmaligen Gutsdorfes und gehörte zu den Landarbeiterkaten, in denen vor dem Krieg die Schnitterkolonnen aus Polen untergebracht worden waren, die zu dieser Zeit die Funktion der heutigen Mähdrescher erfüllten. Niedrig gebaute, schmale Reihenhäuser mit jeweils vier Eingängen die direkt in eine kleine Küche führten. Dahinter zwei Zimmer, kaum größer als die Küche. Wasser aus der Pumpe hinterm Haus. Das Klo, ein Häuschen mit Herzchen im Garten. Während des Krieges hatten Kriegsgefangene darinnen gewohnt, Polen erst, die das kannten, dann Franzosen, dann Russen. Nach dem Krieg wies man die Umsiedler dort ein. Die blieben, bis die Verwandten, die im Westen untergekommen waren, die ersten Weihnachtspäckchen schickten, oder bis sie starben, weil sie schon zu alt waren, um noch einmal weiter zu ziehen. Neuzuzüge gab es kaum und auch kein Material für notwendige Reparaturen. Das wurde in die Wohnblöcke gesteckt, die in den Dörfern hochgezogen wurden, zweigeschossig meistens, mit Flachdach und einflügligen Fenstern. Vom Bild in der Landschaft her eigentlich eine Unmöglichkeit, aber von allen euphorisch begrüßt, nicht nur von den Funktionären, die zur Schlüsselübergabe ihre Reden redeten. Denn das Wasser kam aus der Leitung und zu jeder Wohnung gehörte ein Bad, und manches von diesen Häusern wurde sogar mit einer Zentralheizung versehen. Es sollte keinen Unterschied mehr zwischen den Lebensverhältnissen in Stadt und Land geben.
Weil die Leute aber trotzdem ein paar Hühnerchen halten wollten und im Gärtchen ein Frühbeet anlegen, ging man zu den Katen und holte sich, was dafür gebraucht wurde. Vier solcher Katen hatte es einst gegeben. Jetzt gab es nur noch zwei. In dem einen wohnte Therese, in dem zweiten eine alte Frau, die sie Tante Käthe nannte und die meistens mit einem Stühlchen vor ihrem Kücheneingang saß, um ihre Leiche im Keller zu bewachen, wie Therese mir erklärte. Und deshalb brauche sie auch keinen Wachhund. Denn wenn einer zu ihr wollte, musste er erst an Käthe vorbei und die fragte jeden: „Du hast es doch auch gewusst? Nicht wahr, du hast es doch auch gewusst?“ Und dem gingen sie lieber aus dem Weg. Denn natürlich hatten es alle gewusst, obwohl sie es nicht zugeben wollten. Da hätte man ja belangt werden können, wegen Mithilfe oder unterlassener Hilfe. Wer wollte wissen, wie das zu drehen war? Aber sich immer wieder daran erinnern zu lassen, das musste ja nun auch nicht unbedingt sein.
Käthe war verheiratet gewesen, schon vor dem Krieg, aber ohne Kinder, und ihr Mann hatte alles überlebt, Einmarsch, Rückzug, Gefangenschaft, und hatte sie schließlich auch wieder gefunden. Das große Glück in Reinkultur. Maurer war er und fleißig und konnte nicht nein sagen, wenn einer ihn bat. Und wollte auch meist nichts haben, wenn er nach Feierabend eine Mauer hoch zog oder eine Tür umsetzte oder einen Schornsteinkopf sanierte. Ein Dankeschön und eine Flasche Klarer, das war es schon. Reich werden wollte er nicht. Er hatte nicht vergessen, dass es schon ein Geschenk war, überhaupt noch am Leben zu sein nach alledem. Und er hatte seine Käthe.
Die aber hatte ihn immer seltener. Denn seine Uneigennützigkeit sprach sich herum und damit wurden es auch viele Flaschen Klarer, bis er ohne sie nicht mehr auskam. Zwei Entziehungskuren folgten, zwei Rückfälle und dann nahm Käthe die Sache selber in die Hand. Sie band ihn an Händen und Füßen, als er wieder einmal am Morgen mit durchnässten Hosen vor der Tür lag, als sie zur Arbeit gehen wollte, ließ ihn dann an einem Seil in den Keller hinab, den er selbst unter einem der Zimmer ausgeschachtet und ausgemauert hatte, zog die Leiter heraus und erklärte: „Wenn er nichts mehr kriegt von dem Zeug, wird er davon loskommen.“
Vier Monate hielt sie das durch, sein Wimmern, sein Schreien, den Widerstand, den er leistete, wenn sie ihn windelte und fütterte. Und als er dann sagte: „Ich danke dir!“, ließ sie ihn frei.
Schon nach einer Woche ging er wieder Mauern hoch ziehen und Fensterstürze einsetzen und Decken verputzen. Und nach drei Wochen hing er am Morgen in einer Weide, die sich über den Dorfteich neigte, dem Wohnblock mit Wasser aus der Leitung und Zentralheizung genau gegenüber. Und am Fuße des Baumes lag eine halb ausgetrunkene Flasche Klarer.
„Du hast es doch auch gewusst! Nicht wahr, du hast es doch auch gewusst?“
Aber alle dachten immer, sie meine, dass sie ihn eingesperrt und ihn damit in den Tod getrieben habe.
Auch sie habe eine Leiche im Keller, erklärte Therese, als ich mich über diese Geschichte schockiert zeigte: „Haben wir alle. Du vielleicht auch. Aber darüber muss man nicht reden. Wichtig ist, man vergisst es nicht.“
Und sie hat auch nicht darüber geredet, die ganzen zwölf Wochen lang nicht. Auch nicht, nachdem eines Tages der ABV vorgefahren war und sie seitdem wissen musste, ich konnte nicht ohne eine Ahnung sein, dass da irgendetwas war.
Es war mitten in der Woche, am Vormittag, wo sie eigentlich hätte zur Arbeit gefahren sein müssen. Aber ihr Trabant hatte den Geist aufgegeben und war zur Reparatur, weshalb sie Überstunden abfeiern konnte. Damit hatte er nicht gerechnet. Das war zu sehen. Denn er kam gleich hinter das Haus, wo ich beim Holzhacken war, und hatte dabei ein Lächeln im Gesicht, wie ich es schon einmal gesehen hatte, als ich aus dem Haus mit den seltsamen Fragen getreten und mit meinen zwei Koffern um die nächste Straßenecke gebogen war: „Na, da haben wir ihn ja!“
Und ich fühlte mich auch sofort ertappt, obwohl es nichts gab, wofür ich mich hätte ertappt fühlen können. Und meine Ohren begannen auch sofort warm zu werden, als ob sie zu Infrarotstrahlern mutieren würden. Aber da kam schon Therese aus dem Haus. Und der ABV trat sofort zwei Schritte zurück. Während sie ihn anfuhr: „Kommst du wieder schnüffeln! – Aber da ist nichts, was rauszufinden wäre. Und der da ist mein Neffe aus Dresden. Der erholt sich hier, weil er nämlich in sechs Wochen einrücken muss und dann ein Kollege von dir ist. Und eingetragen im Hausbuch hab ich ihn auch. Hier! Und jetzt gehst du vom Hof! Und wenn du sonst noch etwas willst, dann klopfst du vorne an der Tür. Und wenn ich Lust hab, mach ich auf.“
Und er ging auch tatsächlich vom Hof, ohne in das Buch zu blicken, das sie ihm entgegen hielt. Und stieg auf sein Moped und fuhr davon, mit einem Schlenker über die Grasnarbe am Wegrand, um Käthe auszuweichen, die aufgestanden war von ihrem Stuhl und ihren Finger nach vorn stieß. So wie sie ihn sonst von ihrem Stuhl aus nach vorn stieß, wenn einer aus dem Dorf vorüber kam: „Du hast es doch auch gewusst! Nicht wahr, du hast es doch auch gewusst!“
Das hätte einer Erklärung bedurft, auch, woher sie die Adresse von Lisa und Norbert kannte die sie als Wohnanschrift in das Buch eingetragen hatte, in dem jeder Besuch einzutragen war, der sich länger als drei Tage bei jemandem aufhielt. Aber es gab keine Erklärungen. Nur dass sie zwei Nächte lang meine Hand zurückstieß, wenn ich unter den Bedrängnissen nach ihr zu tasten begann, die mich wegen der Lockung des warmen Körpers neben mir heimsuchten. Es gab nur ein Bett.
Dann aber plötzlich eine wilde Küsserei, kaum dass wir das Deckbett über unsere Körper gezogen hatten. Und dann die Erklärung: „Mach dir nichts draus. Das ging nicht gegen dich. Frauen ticken eben einfach anders als Männer. Auch das musst du lernen. Gewöhnlich leiden sie dabei selber am meisten. Hab Geduld mit ihr.“
Dann wieder Wärme und Zuwendung und Zärtlichkeit, ausreichend zu Essen und sonnabends das feine Singen des Badeofens. Ich hackte mit wahrer Wonne Holz und stellte mir dabei vor, wie ich zu Weihnachten, während meines ersten Urlaubs, bei ihr am Kachelofen sitzen und mir die Ohren kraulen lassen würde.
Dann aber, als sie mich zum Zug nach Steinbergen gefahren hatte und noch während ich meine Koffer aus ihrem Auto hob, erklärte sie: „Kein Zurück! Niemals! Und auch keine Briefe! Ich will nicht, dass sich irgendwelche falschen Hoffnungen entwickeln. Danke für die schönen zwölf Wochen.“ Und war davongefahren, noch ehe ich richtig begriffen hatte, was sie da sagte.

     
     
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