Sieger wird man nicht mit Träumen
Geschichten vom Essen, Trinken und anderen schönen Dingen
     

 

„Sieger wird man nicht mit Träumen“, pflegt Otto Hocker immer zu sagen, wenn er nach der Übertragung eines Weltmeisterschaftskampfes im Fernsehen einen seiner Schützlinge von den Millionen schwärmen hört, die man mit dem geschickten Einsatz seiner Fäuste einzustreichen in der Lage wäre. – „Abwarten, abwarten und dann im richtigen Augenblick die rechte Gerade voll aufs Kinn.“

Wobei er allerdings zu erwähnen vergisst, dass nicht wenige der Urkunden und Schleifen an den Wänden des Sportvereins, in dem er vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jungs Erfahrungen aus seiner erfolgreichen Karriere als Boxer weiterzugeben versucht, sehr viel mit Träumen zu tun haben.

Ja, dass er selbst eigentlich überhaupt nur der Träume wegen zum Boxen gekommen war. Wenn in diesen auch keine durch den geschickten Einsatz der Fäuste zu verdienenden Millionen vorkamen.Vielleicht lässt er das nur aus, weil er nicht in die Lage kommen möchte, dann auch von dem Kampf erzählen zu müssen, bei dem er selbst diesen Satz zu hören bekommen hatte. Ein Kampf, den er immer noch für den bittersten seines Lebens hält. Vielleicht aber ist es einfach nur die Art der Träume, die ihn abhält, von ihnen zu reden. Wobei er wohl nicht der einzige Siebzigjährige sein dürfte, dem es schwer fiele, mit Vierzehnjährigen über die Träume zu reden, von denen er im vergleichbaren Alter heimgesucht worden war. Obwohl mit Sicherheit gerade diese die Bedrängnisse nachempfinden könnten, von denen sie begleitet wurden. Genügte es doch schon, dass er in der Schule nach der Hofpause beim Drängeln in der Tür zum Klassenzimmer mit einem Mädchen zusammengestoßen war und dieses dann dem Lehrer melden zu müssen meinte, der Hockerotto habe sie angefasst, um sich während der anschließenden Stunde in gedanklichen Abschweifungen zu verlieren, die zwar viel mit dem behaupteten Anfassen, aber sehr wenig mit dem vom jeweiligen Lehrer zu vermittelnden Unterrichtsstoff zu tun hatten. Was ihn nicht selten in eine Lage brachte, in der er diesem den erwarteten Respekt verweigern musste. Denn selbstverständlich blieb seine gedankliche Abwesenheit nicht unbemerkt. Und welcher Lehrer ließe sich schon die Gelegenheit entgehen, einen sich seinen Bemühungen um dessen Bildung entziehenden Schüler mit einer an ihn gerichteten Frage dem allgemeinen Gespött preiszugeben? Hatte er sich aber in seinen mit dem Wort „Anfassen“ verbundenen Abschweifungen gerade in Vorstellungen verloren, bei denen sich die von diesem Wort hervorgerufenen Bilder gewissermaßen zu materialisieren begonnen hatten, führte das in der Regel zu einem durch den in Richtung Klassenzimmertür ausgestreckten Arm des Lehrers unterstützten: „Raus!“ Denn, wenn er vielleicht sogar noch in der Lage gewesen wäre, die entsprechende Frage zu beantworten, die Situation, in der er sich infolge seiner materialisieten Vorstellungen befand, ließ den Beweis dafür nicht zu. Wobei das vor allem mit der zu seinen Schulzeiten noch geltenden Bestimmung zusammenhing, dass die Schüler bei der Beantwortung einer Frage des Lehrers aufzustehen hätten. Weil aber alle wussten oder zumindest ahnten, warum er nicht aufstand, wenn er nicht aufstand, setzte schon bald das entsprechende Gekicher ein. Was dann zwar eine Wirkung nach sich zog, in deren Folge er dann doch in der Lage gewesen wäre, die Frage zu beantworten, doch so lange waren die Lehrer in der Regel nicht bereit zu warten.Bei einem solchen „Raus!“ hatte er sich dann mit Knöllchen angefreundet. Der gehörte zur Parallelklasse, zu der auch Ida Schilling gehörte. Und Ida Schilling kam nicht nur in den mit dem Wort „Anfassen“ verbundenen Abschweifungen in der Schule vor, sondern auch in den Träumen, von denen er nachts heimgesucht wurde. Denn Ida Schilling hatte er nun wirklich schon angefasst. Das war in seinem elften Lebensjahr gewesen. Er war an Diphterie erkrankt. – Eine in den Jahren nach dem Krieg häufig vorkommende, sehr ansteckende Krankheit. – Weshalb, wer an Diphterie erkrankte, im Krankenhaus in die epidemiologische Abteilung eingewiesen wurde, wo dann Diphteriekranke mit Diphteriekranken zusammengelegt wurden und anderweitig Infizierte mit anderen anderweitig Infizierten. Die Krankheit war entscheidend. Das Geschlecht spielte eine untergeordnete Rolle. So war er mit einem Mädchen im gleichen Zimmer untergebracht gewesen, das zwar im gleichen Alter war wie er, aber eine um zehn Jahre ältere Schwester hatte, von der sie zum Schlafen auf das Sofa im Wohnzimmer geschickt wurde, wenn sie abends aus dem Haus gegangen war und mit einem Mann zurückkam. Die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer aber hatte ein Astloch. Und so wusste sie alles. ...

 

     
     
zurück