Telefonseelsorge
Geschichten vom Essen, Trinken und anderen schönen Dingen, 2006
     

„Na, schon erholt?“, fragte eine Frauenstimme, nachdem Stiller den Hörer abgenommen und ein undefinierbares Knurren von sich gegeben hatte. „Ich schwebe noch. Ich muss ja zum Glück heute nicht in den Laden. Ich glaube, das hätte ich nicht verkraftet, den ganzen Tag lang Brötchen in Tüten packen und Torten teilen und Brote halbieren, nicht nach einer solchen Nacht. Da hätte ich geschwänzt. – Ich hab die Vorhänge zugezogen, nachdem du gegangen warst und hab geschlafen bis der Hund in der Wohnung über mir zu kläffen begann. Weiß ich, was bei denen da oben wieder los war? Irgendetwas fiel um und dann fing er an zu kläffen: Waff, waff, waff, ohne Unterbrechung. Und normalerweise stört mich das ja auch gar nicht. Ich bin ja sowieso nicht da. Aber heute hätte ich schon gern noch ein Weilchen einfach so vor mich hingedöst, die Nase im Kissen, noch ein bisschen den Duft schnuppern, der dort von dir zurückgeblieben war, und dazu in Gedanken alles noch einmal durchgespielt. Aber das war mit der Kläfferei nicht zu machen. Also bin ich ins Bad, Zähne putzen, Duschen, und dann hab ich mir erst einmal das Schlachtfeld im Wohnzimmer zu Gemüte geführt. - Mein Gott! Ich glaube, wenn im Wohnblock gegenüber einer zufällig zum Rauchen auf den Balkon gegangen wäre, der hätte das Fernsehen für den Rest des Abends sausen lassen. – Was du dir aber auch alles einfallen lässt! Wobei das mit der Mousse au Chocolate natürlich das Größte war. Für mich jedenfalls. Daran könnte ich mich direkt gewöhnen. – Aber nicht, dass du denkst, ich hätte die parat gehabt, weil … Gott bewahre! An so etwas ist bei meinem Mann überhaupt nicht zu denken. Das läuft bei uns alles ganz konventionell ab. Vorhänge zu und Decke drüber, und dann ruck fix zum Ziel. Wobei das nicht heißen soll, dass ich dabei nicht auch meinen Spaß hätte. Nein, nein, das ist schon in Ordnung so. Und ich liebe ihn ja auch wirklich. Hab ich dir ja gesagt. Und wenn ich jetzt das mit dir … Also ich denke mal, er wird sich da bestimmt auch irgendwie seinen Ausgleich schaffen. Ich weiß doch, dass sie dort auch so etwas wie ein Betreuungsangebot haben. Da gehört das bestimmt dazu, denke ich jedenfalls. - Vierhundert Leute auf Stahlgerüsten mitten im Ozean, alles Männer. Die würden sich doch gegenseitig die Schädel einschlagen. - Acht Wochen nichts als Stahl und Männer und Meer. – Also dafür hätte ich Verständnis. Ich weiß doch, wie es mir selber geht. - Aber da hab ich ja nun die ungeraden Donnerstage. Oder wenn das mal nicht passen sollte: sechs eins, sechs eins, eins sechs. – Also du wirst das nicht glauben, aber genau so habe ich mir das manchmal vorgestellt: Keine Versprechungen, keine falschen Schwüre, nur der Spaß, und nur, solange es beide wollen. - Totale Spinne, habe ich dann aber immer gedacht. So etwas gibt es nur im Film. Und dann: Zwei Hände fassen im Ein-Euro-Laden zufällig nach den gleichen Knöpfen, und schon drei Stunden später: Düsenjäger mit Looping. – Wenn ich das jemandem erzählen könnte! – Du sagst ja gar nichts. Rede ich dir zu viel?“ Und weil das nun ein Punkt war, an dem ihm irgendeine Reaktion unumgänglich schien, ließ Stiller diesmal ein verneinendes Brummen hören. Ansonsten aber wusste er immer noch nicht, was da vor sich ging. Wer war diese Frau? Wieso kam sie dazu, ihm so etwas zu erzählen? Hatte sie sich nur verwählt, oder war das einer von diesen Tricks, mit denen man den Leuten das Geld aus der Tasche zieht? – Telefonseelsorge für frisch geschiedene Männer. Heiß machen, bis ihnen der Schaum auf der Unterlippe steht und dann: „Moment mal, bei mir klopft es an. Bestimmt meine Mutter. Wenn die ins Reden kommt, hört sie unter einer Stunde nicht auf. Ruf mich in fünf Minuten zurück, da kann ich sie besser abwimmeln.“ Und dann: Vier Euro neunundneunzig die Minute. – Aber woher sollten diese Leute wissen, dass er eben die erste Nacht in seiner halb leer geräumten Wohnung verbracht hatte? Die konnten ja wohl kaum Leute bei den Gerichten sitzen haben, die ihnen stecken, was einer, dem sie gerade das Hemd aus der Hose gezogen haben, für eine Telefonnummer hat. – „Nein, ich will keinen letzten Versuch. Ich habe mich viel zu lange immer wieder zu letzten Versuchen überreden lassen. Soll er sich doch durchrutschen durchs Leben mit seinen andauernden Ausrutschern. Mir reicht ’s. Lieber keinen Mann, als so einen.“ – Nein, die Kosten für solche Dienste ließen sich wohl nicht einmal mit vier Euro neunundneunzig pro Minute wieder reinholen. Also war es wohl doch eher ein Verwählen. Und da war er nicht verpflichtet, den Irrtum aufzuklären. Zumal dieser Frau wirklich nur ein Knurren zu reichen schien oder ein beifälliges Glucksen im Hals.
„Dann hab ich erst einmal klar Schiff gemacht, meine Strümpfe von der Lampe geangelt, den BH vom CD-Ständer, die Handtücher gewechselt und die Betten frisch bezogen. Ich würde das riechen. – Und weißt du, wo ich meinen Slip gefunden habe? – Hinterm Aquarium! ...

     
     
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