Urlaub auf dem Wasser
Drei Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Urlaub auf dem Wasser

Teil I – Die Mutter

Es war einmal ein Mann, der hatte, nein, nicht schon wieder sieben Söhne, der hatte eine Tochter. Aber auch die sagte eines Tages: „Komm, Vater, erzähl mir mal deine Geschichte.“ „Was für eine Geschichte?“, fragte der Vater zurück
„Na, du weißt schon.“
„Ach, hat sie gehechelt?“
„Also doch.“
„Natürlich ,Also doch!’. Weil wir Männer Jäger sind. Und wenn es andauernd raschelt im Gebüsch … Guck dich doch selber an, wie du herumläufst. Bauch frei und den Rock gerade mal bis über den Zwickel. Ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn es demnächst heißt, Zwickel frei und alles andere verdeckt. Was heißt denn das anderes als: ,Kommt, jagt mich, jagt mich!’? – Kiloweise irgendwelche Feromone in der Welt herumspritzen, aber wenn es dann passiert, dann waren es immer die Männer. – Aber da gehören schließlich zwei dazu, wie du weißt. Oder was war das mit Günterchen und Lolliboy und dem mit dem Schmierfett in den Haaren? – Das frag du dich mal!“
Und damit hätte es eigentlich erledigt sein können. Krach, bumm, die Tür. Wer war sie denn, dass sie sich so etwas anhören sollte, ,Günterchen und Lolliboy und kiloweise Feromone.’ Dabei hatte sie doch nur allgemein gefragt. Oder besser, sie hatte gefragt, weil eigentlich sie eine Geschichte erzählen wollte. Warum kam sie denn nach Hause, vierhundert Kilometer mit dem Zug, schon das zweite Wochenende nacheinander, wenn nicht, weil es etwas zu erzählen gab? Dazu aber brauchte sie gleiche Augenhöhe. Auf nichts anderes war sie aus gewesen mit ihrer Frage. Konnte sie denn wissen, dass er gleich wieder in seinem Bastelschuppen verschwunden war, kaum, dass er sie vom Bahnhof abgeholt hatte, weil ihn die Mutter wieder einmal auf Milchreis und süße Nudeln gesetzt hatte? - Also gab es auch ihre Geschichte nicht, oder erst zu Ostern oder Pfingsten, oder erst dann, wenn es nicht mehr zu vermeiden war.
Aber dass sie offensichtlich einen wunden Punkt getroffen hatte, das war schon klar, und das konnte man ja auch nicht einfach so stehen lassen. Also fragte sie die Mutter.
„Sag mal“, fragte sie, „was hat es da mal gegeben bei euch?“
„Was soll es gegeben haben?“
„Na, du weist schon.“
„Nichts hat es gegeben.“
„Lüg nicht, ich weiß es.“
„Ach so? Und woher?“
„Das sag ich, wenn du es erzählt hast.“
„Da war nichts. Wirklich nichts.“
„Und warum bist du dann so rot geworden?“
„Jedenfalls nicht, was du denkst.“
„Ich denke erstmal gar nichts.
„Na, gut, das war damals, als er immer zum Paddeln fuhr.“
„Zum Paddeln?“
„Weißt du das nicht mehr?“
„Ich weiß nur vom Bergsteigen.“
„Als du drei Jahre alt warst, ist er Paddeln gefahren. – Ein Freund hatte einen Freund, der in der Wismarer Werft beim Faltbootbau arbeitete. Konsumgüterproduktion nannte sich das damals. Was das Gütesiegel bekam, ging in den Export, das andere wurde im Lande verkauft, mit Anmeldung und zwei Jahren warten. Beim Export aber gab es manchmal Reklamationen. Die kamen dann zurück. Und die Betriebsangehörigen konnten sie zum halben Preis erwerben. Also sollte es mit einemmal Urlaub auf dem Wasser sein. Aber beim Wasser, da hörte bei mir die Liebe auf. Ich hab dich sofort kopfüber in irgendwelchen Fluten verschwinden sehen. Er aber hat gedacht, er kriegt mich weich und ist allein los, jedes zweite Wochenende. Die Müritz, der Plauer See, die Elde, der Störkanal. Ostsee, das war ja noch nicht möglich damals. Gott sei Dank!“
„Und du?“
„Ich schob dich im Kinderwagen durch die Wälder und dacht mir aus, was ich kochen könnte, wenn er ausgehungert nach Hause käme. Milchreis, süße Nudeln, Grießbrei, Puddingsuppe. – Das sind so Spielchen, die man spielt, wenn man noch nicht lange zusammen ist. Jeder erwartet vom anderen, dass er nachweist, wie sehr er ihn liebt. Und erst wenn es einer nicht mehr aushält vor lauter Leiden und sich selber sagt: ‚Bin ich denn blöd?’, reicht es, dass man sich auf eine bestimmte Weise die Haare aus der Stirn streicht, und alles ist gut. – Schade um die verlorenen Tage.“
„Und?“
„Was: ,Und?’“
„Die Geschichte!“
„Es war ganz klassisch der Schornsteinfeger.“
„Der Schornsteinfeger?“
„Ja, der Schornsteinfeger!“
„Iiiii!“
„Was denn: ,Iiiii’?“
„Na, die sind doch so dreckig.“
„Na, denkst du denn, das läuft ab wie: Runter vom Dach und rauf auf den Teppich? – Außerdem gibt es ja wohl Duschen.“
„Du hast ihn erst geduscht?“
„Ich habe überhaupt nichts mit ihm!“
„Ich denke, du hast?“
„Hab ich eben nicht!“
„Und warum erzählst du mir das dann und wirst rot wie eine Vierzehnjährige, die beim Wandertag ihren Lieblingslehrer beim Pinkeln überrascht hat?“
„Weil ich es wollen gewollt habe.“
„Ach!“
„Ja, ach! – Also das war so: ...

 

Teil II – Der Vater


Am Abend gab es Bratwurst vom Grill, „die wirklichen Thüringer“, wie die Mutter sie nannte. Dafür hatte sie extra zwei Dörfer weiter fahren müssen. Dort gab es einen Fleischer, der zugezogen war. „Wegen der Liebe“, wie er sagte, „aber nicht zur Landschaft. – Ich muss auch mal nach oben und nach unten gucken können, und nicht bloß immerzu geradeaus.“
Das nahmen die Leute ihm übel. So etwas sagt man nicht, wenn man ein Zugezogener ist. Und teurer als in der Halle war es bei ihm außerdem. Aber wenn Gäste erwartet wurden und es wirklich schmecken sollte, dann riefen sie bei ihm an und bestellten Rindslende oder Rouladen, Bierschinken, Rotwurst, Knacker und Sülzwurst, die bei ihm Presskopf hieß. Nur für Bratwürste nahm er keine Bestellungen an. Da musste man früh auf den Beinen sein, denn das sei wie beim Erbseneintopf erklärte er dazu: „Richtig schmeckt er erst aus dem großen Topf. Aber wenn einer denkt, man könne ihn auch aus dem Tankwagen ausschenken, dann kann er sein blaues Wunder erleben. – Seife mit Brezeln.“
Auch das nahmen die Leute ihm übel. Aber wenn sie am Abend grillen wollten, standen sie früh auf, denn mehr als fünfhundert Würste stopfte er nicht. Und wenn die alle waren, dann waren sie alle.
Auch die Mutter war früh aufgestanden und der Vater hatte Mühe, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
„Bilde dir bloß nichts ein“, sagte sie deshalb. „Das ist nicht deinetwegen. Das mach ich für das Kind.“
Und er antwortete: „Ich weiß.“
Als aber lange genug geschwiegen worden war, sagte er plötzlich: „Ich möchte mich entschuldigen. – Nicht bei dir, bei dem Kind. – Ich habe ziemlich dumm reagiert heute Nachmittag, entschuldige bitte. – Aber damit das nun endlich mal Ruhe hat, erzähle ich jetzt, wie es wirklich war.“

Ja, auch er hatte dieses Spiel gespielt: Zeig mir mal, wie sehr du mich liebst! Denn das war doch wohl wirklich nicht einzusehen, dass die Mutter sich nicht einmal auf einen Versuch einlassen wollte, als er mit der Idee vom Urlaub auf dem Wasser kam. „Nein, nein, nein und nein!“ Das war alles was es zu sagen gab.
, Warte mal’, hatte er da gedacht, ,soll sie mal sehen, wie sie sich fühlt, wenn keiner am Tisch sitzt und genussvoll ihre Suppen schlürft. – Ich hab ja das Boot.’ Und dass sie ihre Milchreis- und süße-Nudeln-Tour abzog, das konnte er verkraften. Schließlich gab es Gaststätten. Und dass ihm nachts im Zelt die Frösche in den Schlummer quakten, war nur gut. Vierzig oder fünfzig Kilometer lang Einstich links, Einstich rechts, das machte rechtschaffen müde. Und so ließ sich auch die bittere Seite der Süße Nudeln Tour überstehen. Also zog er die Routen mit der Zeit sogar bis achtzig Kilometer durch.
Nur ein Bild geriet ihm dabei immer wieder in den Kopf. Das war gleich auf der ersten Tour gewesen. Er war noch vollkommen ungeübt und voller Wut und hatte sich übernommen. Die Arme waren ihm schwer wie Blei, im Magen bohrte der Hunger und vor den Augen drehten sich gelbrote Kreise. Am schlimmsten aber war, dass er vergessen hatte, genügend Wasser mitzunehmen. Wer denkt denn bei Urlaub auf dem Wasser an Wasser für den Leib! Der aber meldet diesen Bedarf mit trockenem Hals und klebriger Zunge und krampfartigen Schluckbewegungen. Aber zu schlucken gab es nichts, obwohl er doch darauf herum paddelte. Aber Paddeln ist eine langsame Fortbewegungsart. Da sieht man mehr, als wenn man mit dem Motorboot über den blauen Spiegel reitet. Tote Fische, halb verweste Wasservogelleichen, Kondome, Tampons und grün schillernde Fliegen, die sich an all dem gütlich tun. Und er hatte noch sieben Kilometer vor sich. Da stieß der Bug seines Bootes hinter einer Uferbiegung direkt auf einen Bootssteg zu, auf dem eine Frau saß. Sie hatte dort offensichtlich gelegen und war durch ein Entenpaar aufgeschreckt worden, das laut schnatternd vor ihm floh. Weshalb sie sich auch ein Handtuch vor den Körper hielt. Das hätte er unter normalen Umständen respektiert und hätte die Laufrichtung des Bootes korrigiert, mehr vom Ufer weg, auf den See hinaus. Aber er war wirklich so erschöpft, dass er es nur laufen lassen konnte, wie es lief, bis es an den Steg stieß. Und es gelang ihm nicht einmal ein Lächeln als er dann röchelte: „Entschuldigung! Ob Sie mal einen Schluck Wasser für mich hätten. Ich hab mich vollkommen übernommen.“
„Ja, wenn Sie sich einen Augenblick umdrehen“, sagte die Frau darauf und stützte die eine Hand auf den Steg, um sich zu erheben. Aber nicht einmal dazu war er noch fähig. Er konnte nur den Kopf vornüber fallen lassen und die Stirn auf den von der Sonne heißen Gummi der Bootshaut legen.
So blieb er, bis sich das Geräusch ihrer nackten, auf die Bohlen des Steges patschenden Füße wieder genähert hatte und eine schlanke Hand ihm eine mit perlendem Tau überzogene Flasche Wasser reichte. Dann schluckte er, dass ihm die Sinne schwinden zu wollen schienen und beugte dann wieder den Kopf über das Boot, weil ihm nun das kalte Wasser den Magen zu zersprengen schien.
„Na, das scheint aber wirklich höchste Zeit gewesen zu sein“, sagte die Frau darauf. Und er nickte. Wobei er zum ersten Mal zu ihr aufschaute und erschrak. Denn sie war schön, wirklich schön. Gerade so, als ob sie in einem Film mitspielte. Nicht sein Alter zwar, viel zu alt, mindestens zehn bis fünfzehn Jahre älter als er, aber eben schön. Und aus ihren Augen leuchtete etwas, das ihn beunruhigte. Weshalb er: „Nein, nein, danke!“, sagte, als sie sich plötzlich mit der Hand auf den Mund schlug und erklärte: „Ach, bin ich dumm. – Ich hab doch noch eine ganze Schüssel Götterspeise im Kühlschrank. – Warten Sie. Ich hole Ihnen etwas.“, und beinahe panikartig nach dem Paddel griff und davonfuhr, ohne sich bedankt zu haben.
Das wurde ihm aber erst bewusst, als er das Boot auseinandergebaut, in den Transportsack verpackt und im Kofferraum des Trabant verstaut hatte. Und er dachte: ,Nein so etwas von fertig, Dafür hätte ich Prügel verdient.’
Zu Hause aber hatte er sich nichts anmerken lassen, hatte mit betonter Genüsslichkeit den Gießbrei gelöffelt, den die Mutter ihm auf den Tisch stellte, und hatte gedacht: “Wasser braucht man auf dem Wasser. Diese Lehre war es wert.“
Und er vergaß auch nie mehr, genügend davon mitzunehmen, wenn er das Boot über die Seen und durch die Kanäle trieb und hatte immer schönere Erlebnisse zu erzählen. Wie die Enten sich flügellahm stellten und wie verletzt und krank vor ihm über das Wasser patschten, bis er sich weit genug von ihrem Nest entfernt hatte, vom Eisvogel, der wirklich wie ein Pfeil aus dem schnellen Flug, kopfüber in das Wasser schoss, und von Fischen, die in der Abenddämmerung meterhoch daraus empor schnellten.
Nur dieses Bild bekam er nicht aus dem Kopf: die Frau, die auf dem Bootssteg saß, mit dem Handtuch vor dem Körper und seinem Boot entgegenschaute, das näher und näher glitt und dann gegen die Pfosten stieß. Schlank und blond war sie gewesen, mit einem Zopf, so lang wie: „Rapunzel lass dein Haar herunter.“ Und ihre Augen hatten grün geschillert, als sie ihm die Götterspeise anbot.
Aber: ,Das nicht!’, hatte er dann immer gedacht. ,Das auf keinen Fall.’ Er liebte seine Frau wirklich. Und dass er sie mit starrköpfigen Paddeltouren auf das Wasser locken wollte, hatte damit nichts zu tun.
Sie aber war genauso starrköpfig wie er und außer dem Milchreis hatte sie noch eine besonders wirksame Waffe: „Nein, nicht. Das Kind wird wach!“ oder: „Geh doch paddeln, wenn du zuviel Kraft hast. Ich hab das Kind und den Haushalt. Und arbeiten geh ich außerdem, wie du weißt.“ So wuchs dann doch der Appetit auf Götterspeise. Und das Bild von der Frau auf dem Bootssteg wuchs sich zu Träumen von der Frau auf dem Bootssteg aus.
Warum lag sie da allein und ohne sich zu genieren? Er konnte doch nicht der einzige sein, der da mit dem Boot vorüber gefahren kam. Und in ihren Augen schien ihm wirklich mehr als ein Erstaunen über seinen unsäglichen Durst geglitzert zu haben. Nachschauen, ob sie da noch immer saß, konnte man ja wenigstens mal. Und sollte es so sein, dann war das wohl kein Treuebruch. So alt wie sie war, bestand ja keine Gefahr, dass sich eine Beziehung daraus entwickeln könnte. Einmal ein Hüpfer zur Seite. Das war kein Verrat. Außerdem war seine Frau ja selber Schuld mit ihrem: “Geh doch paddeln.“ Welcher Mann sollte denn da nicht denken: „Na, dann geh ich eben mal.“
Und tatsächlich, sie saß. Denn wieder war das Entenpaar vor ihm aufgeflogen. Und das Ufer lief so, dass der Steven seines Bootes genau auf den Steg zeigte, als er dem Schilfgürtel folgte. Und dann huschte ein Erkennen über ihr Gesicht. Und dem Erkennen folgte ein Lächeln, ein freudiges Lächeln. Während ihm über den Schläfen die Adern zu pulsen begannen.
„Na, wieder das Wasser vergessen?“, fragte sie dann. Und er antwortete, wie er sich das hunderte von Malen vorgestellt hatte: „Nein, das nicht. So etwas passiert einem nur einmal. Aber die Götterspeise geht mir nicht aus dem Kopf.“
Worauf sie entgegnete: „Und sie werden es nicht glauben, ich habe.“
Dann patschte sie mit der linken Hand zweimal auffordernd neben sich auf den Steg und rückte mit der rechten das Handtuch zurecht, ehe sie noch ergänzte: „Aber ein bisschen wird es dauern.“ Und dabei aufstand und davon ging, ohne ihn aufgefordert zu haben, sich ein Augenblickchen umzudrehen. Während er bemerkte, dass sie nicht ging, sondern schritt. Ja. Sie schritt, sie schritt, wie Frauen mit solchen Körpern in Filmen zu schreiten pflegen, während das Ende ihres langen Zopfes leicht über dem Grübchen hin und her pendelte, in das ihr Rücken auslief. Denn sie hatte auch keine Anstalten gemacht, das Handtuch von vorn nach hinten zu wechseln, nachdem sie sich zum Gehen gewendet hatte. Und da flogen auch die letzten Bedenkchen und Gewissensdrückereien wie Schmetterlinge davon. Er kletterte aus dem Boot, streckte die Glieder, ließ seine Gelenke knacken, blickte noch einmal sichernd über den See und setzte sich dann genau auf die Stelle, auf die sie mit ihrer Hand gepatscht hatte.
So. Das also war der erste Akt. ...

 

III –Die Tochter

„Ach, du mein Ärmster“, sagte die Mutter, nachdem der Vater seine Geschichte erzählt hatte. „Dabei hätte ich dir das vielleicht sogar gegönnt. – Ja von heute aus gesehen, warum hätte ich dir das nicht gönnen sollen? – Wenn sie wirklich so schön war, wie du sagst. – Was hätte ich dabei verlieren können? – Sie wird das ja auch nur als eine Art Notdienst angesehen haben. – Mein Gott, wie lange sind diese Männer denn mit den Schiffen unterwegs? Zwei Monate? Drei? Ein halbes Jahr? – Mit Frau Kisselgörn ist das gar nicht zu vergleichen. Die grabscht nach Jedem, den sie kriegen kann. Und von der Pille scheint die auch noch nie etwas gehört zu haben. – Wie viele zahlen da nun schon? – Das fehlte noch, dass einer vom Gericht vor der Tür steht und eine Speichelprobe haben will.“
Da sagte die Tochter: „Bei mir war es die Postbotin.“
„Was?“, fragte die Mutter.
„Na, das!“
„Was, das?“
Der Vater zog die Augenbrauen zusammen.
„Na, eben das!“ sagte die Tochter.
Und nun zog auch die Mutter die Augenbrauen zusammen: „Das ist nicht dein Ernst?“
„Doch“, antwortete die Tochter. „Sie hieß Esra und brachte euer Geburtstagspäckchen, gegen Unterschrift. Deshalb musste sie zu mir bis in den dritten Stock. – Schönes, langes, seidenweiches, schwarzbraunes Haar, links am Kinn ein kreisrundes, hemdknopfgroßes Muttermal und am linken Nasenflügel ein rubinroter, glitzernder Stern. Ich stand, als hätte mich der Blitz getroffen.“
„Nein, das will ich jetzt nicht auch noch hören“, sagte der Vater darauf und stand auf. „Mir war das schon mit Frau Kisselgörn zu viel.“ Und dann schrie er plötzlich: „Ja bin ich denn unter lauter Verrückte geraten? – Und deine Rostbrätl, die könnt ihr morgen alleine essen. – Ich lass mich doch von euch nicht zum Emil machen.“
Aber noch ehe er auch noch die Tür zuknallen konnte, sagte die Tochter: „Und außerdem bin ich schwanger.“
Das ließ nun den Vater stehen, als sei er vom Blitz getroffen worden: „Von der Postbotin?“
„Ja, von der Postbotin.“

Es war alles genau so gewesen, wie sie es gesagt hatte. Es klingelte an der Tür. Sie ging öffnen und stand dann, als sei sie in das Märchen vom Dornröschen geraten. So etwas hatte sie bis dahin noch nicht erlebt. Günterchen, das war nicht mehr als reine Neugier gewesen, mit genau dem Effekt, der davon zu erwarten war. Man wusste nun, wie das so vor sich ging und konnte sagen: „Ja, ich auch“, wenn andere damit prahlten, dass sie wussten, wie es vor sich ging. Dann Lolliboy. Den hatte einfach nur ihre Freundin Kerstin nicht haben sollen. Die guckte in die Runde und sagte dann: „Den greif ich mir.“ Und schon zwei Tage später hing er ihr hechelnd am Hals.
Das müsste sie doch wohl auch können, hatte sie gedacht und Lolliboy dankte es ihr mit einer Anhänglichkeit, als sei sie in Honig gebadet worden. Ansonsten aber war alles eine reine Katastrophe. – Ja, irgendwie hatte er sie schon interessiert. Und wenn er kam und sagte, seine Eltern würden übers Wochenende auf die Datsche fahren, dann dachte auch sie: ,Schön, da können wir uns wenigstens mal richtig Zeit für alles nehmen.’ Aber, dass sie zu irgendwelchen Himmeln aufgestiegen wäre, hätte sie nicht behaupten können. Und Timo der Punker, das wäre ein Fall für den Nachhilfeunterricht gewesen. Da hatte sie schon Schluss gemacht, noch ehe er auf die Idee kam, seine Hände auf Erkundungsreise zu schicken.
Nun aber die Postbotin und zitternde Hände bei der Unterschrift auf dem Display des elektronischen Geräts, weil bei der Übergabe auch noch die Finger gegeneinander gestoßen waren. Und gleich am Tag darauf auch noch das Päckchen von Tante Lore. Dabei hatte sie so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.
Mein Gott, was war das bloß? Gab es denn das? Sollte sie wirklich statt für Männer für Frauen geschaffen sein?
Dass so etwas möglich war und nicht vom Wollen oder Nichtwollen abhing, wusste sie zwar schon lange. Aber dass es auf sie selbst zutreffen sollte? Woran merkte man das, wenn nicht daran, dass einem die Knie weich wurden und die Finger zitterten, allein durch einen Blick? Mit dem, was sie bei Günterchen und Lolliboy empfunden hatte, war es jedenfalls überhaupt nicht zu vergleichen. Da war es einfach nur angenehm gewesen, dass einer sagte: „Du sollst es sein.“ Und wenn da etwas gezittert hatte, dann war das vor allem die Aufregung gewesen, dass man nun wohl endlich wirklich erwachsen werden sollte. Und irgendwie ein bisschen etwas vom Brechen eines Verbots hatte es ja auch gehabt. Hatte nicht die Mutter gerade in dieser Zeit immerzu gewarnt: „Man muss nicht alles auf einmal haben. Manches kommt später immer noch früh genug. Und ob die Pille wirklich das Richtige ist, weiß man auch noch nicht genau. Mit einemmal sind sie alle steril und die Menschheit stirbt aus, bloß weil sie nicht haben warten können.“
Aber dieser Blick, das war etwas ganz und gar Unvergleichliches. Also wenn es denn wirklich so sein sollte, dann sollte es auch genau in dieser Weise sein und am besten noch genau mit dieser Frau.
Doch das waren die nächtlichen Grübelgedanken gewesen. Ob sie wirklich dazu fähig sein würde, ließ sich nicht sagen. Zum Glück war sie ja normalerweise nicht zu Hause wenn die Post kam, und musste, was nur gegen Unterschrift ausgeliefert werden konnte, am nächsten Tag in der entsprechenden Filiale abholen. Sie würde also noch ein paar Nächte Zeit haben, um herausfinden zu können, ob sie sich nicht irrte.
Nun aber Tante Lores Päckchen und die Gewissheit, nein, sie irrte sich nicht. Genau die gleiche Mattigkeit in den Knien wie am Tag zuvor, dazu das wie elektrisierende Zucken in den Fingern, die bei der Übergabe des Geräts zur Unterschrift aneinander stießen, das Zittern der unterschreibenden Hand, und dann auch noch das Klopfen des Pulses unter der Schläfenhaut beim Lauschen hinter der Tür auf die sich treppab entfernenden Schritte, mit der Hoffnung, sie könnten langsamer werden, verharren und dann wieder näher kommen. Gefolgt von einer, ja, beinahe Tränen treibenden Enttäuschung, weil es nicht geschah. Worauf eine Nacht folgte, die mit dem Durchspielen von Varianten zergrübelt war, wie sich eine weitere Begegnung organisieren ließe. Denn wenn, ja, wenn es denn nun wirklich so war, dann änderten sich ja wohl auch die Grundmuster des Verhaltens. Dann wartete man nicht, bis die andere Seite sich rührte und den ersten Schritt wagte, dann wagte man selbst.
Aber noch ehe sie beginnen konnte, die Variante vorzubereiten, für die sie sich schließlich entschieden hatte, nämlich sich selbst ein Päckchen zu schicken, wagte die andere Seite.
Schon am Montag stand sie wieder vor der Tür, allerdings am Vormittag schon und ohne Päckchen



     
     
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