Wechseljahre
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Sie hatte gewusst, dass er irgendwann einmal einen Schritt zu weit gehen würde. Schon lange hatte sie das gewusst, seit einem halben Jahr schon oder gar einem ganzen. Ganz sicher war sie da nicht. Sehr oft kam er nicht zum Einkaufen in ihre Halle, und wenn, dann suchte er nicht unbedingt den Fleischstand auf. Ja, es schien, als käme er zum Fleisch nur, wenn er einen Anlass zum Feiern hatte. Das schloss sie aus den Mengen, die er dann kaufte, fünfzehn Rouladen etwa oder drei Kilo Kasslerkamm oder Goulasch als müssten davon zwanzig Leute satt werden. Wobei er niemals einen Zettel dabei hatte. Er schien seine Einkaufsliste im Kopf zu haben. Oder er entschied, was er kochen würde, erst während er darauf wartete, bedient zu werden. Denn dass er es war, der kochte, das schien offensichtlich. Zu kundig wählte er, was er kaufte. Das war nicht, als ob er in Gedanken eine Liste abhakte, die ihm seine Frau diktiert hatte. Nein, er wusste selbst was er wollte, wenn er wusste was er wollte. Knochen für Brühe oder Knochen zum Anrösten für einen Bratenfonds, diesen Unterschied konnte eine Frau einem Mann der nicht kochte kaum erklären. So etwas wusste einer oder er wusste es nicht. Der aber wusste es. Das sah sie.
Was sie nicht sehen konnte, war, ob er überhaupt eine Frau hatte. Einen Ring trug er nicht und in seinem Einkaufswagen hatte sie auch noch niemals etwas liegen sehen, an dem das zu erkennen gewesen wäre. Keine Haarwäsche, kein Duftschaumbad, keine Slipeinlagen. Aber das konnte auch damit zu tun haben, dass ihr das Regal mit der Tiernahrung den Blick zu den Drogerieartikeln verwehrte. Die anderen Verkäuferinnen fragen mochte sie nicht, obwohl die bestimmt Bescheid wussten. Sie kannten ja auch seinen Namen: Herr Kitzelfinger. Aber die hätten sich bestimmt gleich irgendetwas zusammengedacht. Wurde sie doch ohnehin schon als Außenseiterin angesehen, weil sie sich aus der Geburtstagsbeschenkerei ausgenommen hatte. – „Ich will nichts geschenkt und ich will auch nichts schenken. Da hab ich mit der ausufernden Verwandtschaft meines Mannes schon genug Probleme. – Übertöpfe und Duftkerzen und selbst gehäkelte Deckchen, die ich überhaupt nicht ausstehen kann. Und wehe, du vergisst, was du von wem geschenkt bekommen hast und es ist nicht zu sehen, wenn er zu Besuch kommt. – Nein, beschenkt euch ruhig, wenn ihr das so eingeführt habt, aber mich lasst da bitte raus.“
Und keine hatte sich getraut zu sagen, dass sie das genau so sehe. Denn die dicke Doris von Süßwaren und Konserven hatte gleich gesagt: „Na, so eine heilige Genoveva!“ und war zum Leergutlager gegangen, wo man den Zigarettenrauch in eine Klappe an der Lüftungsanlage blasen konnte. Da wäre ihnen die Frage, ob der Herr Kitzelfinger verheiratet sei, gerade recht gekommen. „Denkt euch mal, die heilige Genoveva verzehrt sich nach Herrn Kitzelfinger!“
Wobei, das musste sie zugeben, sein Name nicht in der Weise ausgesprochen wurde, wie zu erwarten gewesen wäre, dass Verkäuferinnen einer Kaufhalle den Namen eines Kunden aussprachen, der Herr Kitzelfinger hieß. Viel zu Lachen gab es nicht, bei der Hatz auf die sie gesetzt waren. Da wäre so ein Name schon passend gewesen, „Herr Kitzelfinger!“ Aber in seinem Fall war das anders. Über seinen Namen wurde nicht gelästert. Und selbst, als er einmal mit dem Ellenbogen ein Regal aushebelte, weil Frau Pfennig vom Rechtsanwaltsbüro Schüttler und Schäumer ihm nicht den Weg freigegeben hatte, erbosten sie sich nicht über ihn, sondern über Frau Pfennig, die nicht einmal einen Blick für das Geschepper und Getöse übrig gehabt hatte. Warum das so war, hätte sie nicht sagen können, auch da schlossen sich gezielte Nachfragen aus. Ihr reichte schon der Spott, den sie gegen sich selber richtete, weil ihr das Blut in den Kopf geschossen war, als er eines Tages nach drei Kilo Gehacktem, halb und halb, einem Pfund Leber und einer ganzen Rindslende plötzlich gesagt hatte: „Das sieht übrigens sehr gut aus.“
Sie war zwei Tage zuvor beim Friseur gewesen und hatte sich die Haare abschneiden lassen, radikal. „Drei Zentimeter über dem Kamm“, hatte sie gesagt. „Meinem Mann soll der Bissen aus dem Mund fallen, wenn ich in die Küche komme.“
Denn da konnte sie sicher sein, er würde in der Küche sitzen, das Käsebrot in der einen Hand und in der anderen die Zeitung. Er wartete nie, bis auch sie nach Hause kam, sondern fiel über den Kühlschrank her, kaum dass er die Schuhe von den Füßen gestreift hatte und griff zugleich nach der Zeitung. Gemeinsamer Abendbrottisch, das war lange her. Das hatte sich erledigt, kaum dass die Kinder aus dem Haus waren.
„Eine Stunde am Tag braucht der Mensch, in der er ganz für sich allein sein kann“, hatte er dazu erklärt, und eigentlich hätte sie dagegen auch nichts einzuwenden gehabt, aber musste es denn gerade die Stunde sein, in der sie nach Hause kam, gierig darauf, endlich wieder etwas anderes reden zu können, als: „Bitte, was soll es sein? – Und was sonst noch? – Schönen Tag auch.“
Aber ihrem Mann war nicht der Bissen aus dem Mund gefallen, als sie mit kurzgeschorenem Kopf nach Hause kam, sondern er hatte: „Oha“, gesagt und die Zeitung beiseite gelegt und: „Da kann ich dir ja nun nichts mehr durcheinander bringen, wenn ich dir in die Haare gehe“, und war aufgestanden, während sie mit einem Gefühl, als hätte sie Lichter auf den Wangen, die Einkäufe in den Kühlschrank stapelte, und hatte das dann auch gleich ausprobiert.
Und auch sie hatte gefunden, dass es viel besser war, wenn sie dabei nicht daran denken musste, wie viele Haare sie wieder in den Mülleimer würde werfen müssen, wenn sie das Durcheinander auskämmte, das er jedes Mal anrichtete, wenn er ihr mit beiden Händen zugleich durch die Haare fuhr. Und es war das erste Mal in zweiundzwanzig Jahren Ehe, dass sie den Küchentisch entweihten.

     
     
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