Emmis Klopse
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Emmi Bockhold begegnete der Liebe mit siebenundachtzig. Die war siebenundsiebzig und trug schwarze Lacklederschuh.

Ob ich mir hier vielleicht irgendwo die Hosen bügeln könnte?“, fragte sie. Und als Emmi den Kopf hob, war es geschehen.

Sie war wie jeden Tag, wenn sie den Tisch abgeräumt, ihren Teller und das Besteck abgewaschen und zum Trocknen auf einem frischen Küchentuch abgelegt hatte, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, zuerst zum Schuppen hinter dem Haus gegangen, wo am Regenfass ihr Kritzelstock lehnte, und dann zum Bänkchen vor dem, im Dorf immer noch Armenkaten genannten, lang gestreckten Haus mit den Zweizimmerwohnungen, in das sie umgezogen war, nachdem ihre Jungs sich über die Welt verteilt hatten und sie die Vierzimmerwohnung im alten Gutshaus nicht mehr brauchte. Dort hatte sie dann, wie ebenfalls jeden Tag, Zahlen in den Sand zu schreiben begonnen. Und es war schon außerhalb ihrer Gewohnheiten gewesen, dass sie überhaupt den Kopf hob, ehe der Schulbus vorübergerollt war, der die jüngeren Kinder von der Schule in Lüblow nach Hause brachte. Denn erstens kam um diese Zeit sowieso kein anderer vorb2on dir denselben Dödel an. – ,Weißt du, dass ich vierundvierzig den Schönfelds den Tip mit dem Vieruhrvierzehner Bus gegeben habe? Die hätten sie als erste geholt.' – Ich hab meine eigenen Geschichten, die ich immer wieder erzählen könnte.“

Das lag schon fünfzehn Jahre zurück, aber es hatte geholfen. Der wechselte seitdem die Straßenseite, wenn er zu Werner Schüttholz Zigaretten schnorren ging. Und Zweitens blieben die Kinder nur stehen, wenn sie den Kopf gesenkt hielt und kritzelte.

Kein Mensch nicht kann das rechnen, achthundertsiebzehn, geteilt durch hundert, mal acht, mal ein Euro und vierzig, mal zwei“, sagte sie dann etwa oder: „Büfett, wird das nun mit ue oder mit ü geschrieben?“ Und dann fand sich immer einer, der den anderen zeigen wollte, was er konnte.

Wichtig war aber, dass sie wusste, ob es stimmte, was er dann zusammenrechnete. Denn mancher wollte ja auch nur beweisen, dass sie nicht mehr ganz beieinander war, die Frau Oberforstmeister. Das hatten sie von den großen Jungs, die mit den Mopeds voraus gefahren waren und bei ihr stehen blieben, wenn sie zu Hause ihre Schultaschen in die Ecke geschleudert hatten und zurück zum Buswartehäuschen trotteten, um dort bis zum Abend nach dem Bordstein auf der anderen Straßenseite zu spucken. Die gierten nach einem Witz, wenn sie stehen blieben und: „Guten Tag, Frau Bockhold!“, sagten.

Kommt der Aldi zum Himmelstor und will eingelassen werden. Sagt der Petrus: ‚Nichts da! Du hast deine Leute bis aufs Blut geschunden. Du gehörst in die Hölle.’ Kommt eine Nonne vorbei und sieht ihn weinen. ‚Was weinst du denn so jämmerlich?’ ‚Ach ich bin doch der Aldi’, sagt der Aldi, ‚und der Petrus will mich nicht in den Himmel lassen. Dabei hab ich doch die Preise immer so niedrig gehalten, dass all die armen Mütterchen und Väterchen mit ihren niedrigen Renten nicht Hungers sterben müssen.’

Gut’, sagt die Nonne, ‚kriech unter meinen Rock. Ich nehme dich mit hinein.’ Das Klappt auch. Sie kommen ungeschoren durchs Tor. Aber wie sie dann drinnen sind, schimpft die Nonne: ‚Nein, dass du mich so belügen konntest! Du bist doch gar nicht der Aldi. Du bist der Schlecker!’“

Natürlich erzählten die großen Jungen das dann zu Hause. Und die Eltern sagten: „Die Emmi, die ist doch nicht mehr ganz richtig. Kindern solche Witze!“

Aber woher hatte sie denn die Witze?

Die erfuhr sie, wenn die Mädchen ihre Hausaufgaben gemacht hatten und ebenfalls zum Buswartehäuschen pilgerten. Die aber hatten sie von Heino Hammerich, dem Schmied. Der plinkerte immer noch auf seinem Amboss herum, obwohl das schon lange nicht mehr lohnte, und erzählte dabei Witze, egal ob ihm einer zuhörte oder nicht. Weil er aber fast taub war, erzählte er sie so laut, dass sie das halbe Dorf hören konnte. So wusste jeder Bescheid, außer den Jungs. Die hatten ihre Helme über den Ohren, wenn sie bei ihm vorüber knatterten. Deshalb kamen sie auch bei ihr vorbei und sagten: „Guten Tag!“ Denn dass die Mädchen ihnen Heino Hammerichs Witze erzählten, war auszuschließen. Ein Dorf ist ein Dorf. Und wenn die Zeit auch noch so Kobolz schlägt, dort hält man sich immer noch an Grenzen, die anderswo schon lange nicht mehr existieren.

Achthundertsiebzehn, geteilt durch hundert, mal acht, mal ein Euro und vierzig, mal zwei, rechnete sie also gerade, als sich ein Fuß in ihr Blickfeld schob. Ein Fuß in einem Lacklederschuh, über dem der Saum eines Hosenbeins mit Aufschlägen pendelte. Und eine Männerstimme fragte: „Ob ich mir hier vielleicht irgendwo die Hosen bügeln könnte?“

Und als sie ihren Blick, der eigentlich gar nicht so sehr aufbesserungsbedürftigen Bügelfalte dieses Hosenbeins folgend, über ein akkurat mit zwei Knöpfen geschlossenes Jackett bis zu einem glatt rasierten Kinn und zwei eng beieinander stehenden grauen Augen hatte gleiten lassen, zogen sich dort die unter einer gewaltigen Nase gelegenen und von einem schmal geschnittenen Oberlippenbart verzierten Lippen spitz zusammen und wölbten sich um eine Winzigkeit nach vorn. Während sie: „So alt musste ich werden!“, dachte.


     
     
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