Volkmar Volkmann suchte die Stille. Das hing mit seinem Beruf zusammen.
Er war Biologielehrer an einer Realschule. Und wer schon einmal gezwungen
war, sich länger als zwei Stunden in einer solchen Einrichtung aufhalten
zu müssen, - und das mussten wir wohl alle - wird dieses Bedürfnis
verstehen. Außerdem hatte sich die Entscheidung, eine Eigentumswohnung
in einem der neu erbauten Häuser an der Kaikante des alten Hafens
zu kaufen, als Fehler erwiesen.
Gut, sein Weg bis zur Schule betrug nur vier Kilometer. Die fuhr er mit
dem Fahrrad. Und seine Frau erreichte ihr Kosmetikstudio am Hafentor in
sieben Minuten zu Fuß. Auch, dass er sein Kajak direkt vor der Haustür
aufs Wasser setzen konnte, gehörte unzweifelhaft zu den Vorteilen
dieser Wohnlage. Doch er hatte nicht bedacht, dass auf der gegenüber
liegenden Seite des nur fünfzig Meter breiten Hafenbeckens täglich
tausende Touristen entlang pilgerten, dass die Bootsführer der fünf
konkurrierenden Ausflugsschiffe nach dem Ablegen ihre Fahrgäste über
die Bordlautsprecher mit den immer wieder gleichen Witzen begrüßen
würden, dass während der Sommersaison mindestens zweimal im
Monat irgendein Fest mit Böllerschüssen des direkt unter seinem
Schlafzimmerfenster vertäuten Traditionsseglers eröffnet wurde
und gleich gar nicht war abzusehen gewesen, dass sich das in einem der
ehemaligen Getreidespeicher als Übergangslösung eingerichtete
Jugendfreizeitzentrum zum Treffpunkt aller möglicher Einsteigerbands
entwickeln könnte, die dort Sommers wie Winters, auf der davor gelegenen
Verladerampe ihre aufwändigen Beschallungsgerätschaften aufbauten
und in Betrieb setzten.
Außerdem kam seine Frau täglich, wenn sie der letzten Kundin
die Antistressmaske abgenommen und die Tageseinnahmen bei der Bank abgeliefert
hatte, mit dem Aufschrei nachhause: „Ach, ist das schön, endlich
einmal nicht mehr andauernd reden zu müssen!“ und redete dann
bis das Abendbrotgeschirr abgewaschen, der Fernseher ausgeschaltet und
die Vorhänge am Schlafzimmerfenster wieder zurückgezogen waren,
dass die frische Nachtluft ins Zimmer konnte.
Nicht, dass er sie deshalb weniger geliebt hätte, aber seinem Bedürfnis
nach einem ruhigen Feierabend war das jedenfalls auch nicht gerade zuträglich.
So nutzte er jede Gelegenheit, die sich bot, um sein Kajak auf das Autodach
zu laden, zu einem der nahe gelegenen Binnenseen zu fahren und dann am
Schilfgürtel entlang über das Wasser zu gleiten, bis eine Stelle
gefunden war, wo er sich ungestört am schwirrenden Flug der Libellen
erfreuen konnte, am geheimnisvollen, Geglitzer aufgeschreckter Jungfischschwärme
oder vorüber ziehende Entenfamilien beobachtete.
Manchmal aber setzte er das Boot einfach nur vor der Kaikante aufs Wasser,
wartete, bis sich die Dieselschwaden eines auslaufenden Kutters verzogen
hatten und paddelte dann zu der vor der Stadt gelegenen Insel hinüber,
wo er Stellen wusste, an die sich höchstens einmal ein Pärchen
ganz junger Leute auf der Suche nach einem Platz verirrte, wo sie ungestört
ihre gegenseitigen Gegenseitigkeiten zu erkunden vermochten. Die Salzwiesen
zum Beispiel, wohin er sich nach einer knappen Stunde Fahrt über
eine spiegelglatte See an einem frühen Freitagnachmittag eines seit
langem wieder einmal sonnigen Mai zurückgezogen hatte.
Dort lag er nun zwischen Gänsefingerkraut, Strandwegerich und Straußengras,
blickte in den wolkenlosen Himmel und lauschte auf die Stille.
Dann aber klingelte sein Handy. Ärgerlich richtete er sich auf, griff
nach der Tasche, die er hinter seinem Kopf abgestellt hatte, fingerte
es aus deren Tiefen und stellte erstaunt fest, dass es gar nicht klingelte,
obwohl es klingelte. Bis er schließlich sah, dass es nicht sein
Handy war, das da klingelte, sondern ein anderes, eins, das genau so aussah
wie seins und genauso klingelte aber nicht seins war. Es lag neben der
Tasche hinter einer Grasbülte. Und es war ihm offenbar deshalb nicht
aufgefallen, weil er noch einmal nach dem Boot geblickt hatte, als er
die Tasche abstellte. So überraschte ihn dieses Handy in mehrfacher
Weise mit seinem Geklingel. Zum einen, weil es überhaupt klingelte,
zum anderen, weil es so klingelte, wie es klingelte, nämlich ebenso
wie sein eigenes und zum dritten, weil es ihn vor ein Problem stellte.
Sollte er es aufheben und sich melden oder nicht?
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