Mausekind
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Und doch hatte der Mond eine Delle. Sie konnte es genau sehen. Oben rechts, wie es sich für einen abnehmenden Mond gehört. Aber nein, Vollmond sollte nach Meinung ihres Mannes erst heute sein! Da zählte auch nicht, dass die Vollmondparty auf dem Pooldeck schon am Vorabend stattgefunden hatte. – „Die müssen Umsatz machen, verstehst du das denn nicht?! – Um zwei sollen die Koffer vor den Kabinentüren stehen. Um neun muss der Letzte von Bord sein. Wer kippt sich denn da am Abend vorher noch den Kopf voll? – Also wird der Vollmond einen Tag vorverlegt. Dass es in der Kasse rasselt. Die sind doch auch nicht blöd.“ Und er hatte nicht einmal wenigstens gucken wollen. – „Hast du nicht gesehen, was die für Preise haben? – Aber bitte, wenn es dir nichts ausmacht, mit der Wasserflasche aus der Kabine zwischen Leuten herumzustehen, die sich eine Pinacolada nach der anderen einhelfen! – Ich geh zum Theater. Das kostet nichts.“ – Als ob es ums Leben ginge.

Also war sie mit zum Theater gegangen, obwohl ihr schon der Titel sagte, was sie da zu erwarten hatte: „Männer sind genau so, und Frauen auch.“ – Und so war es dann auch gewesen. Zwei mit winzigen Mikrofonen an den Backen, die sich gegenseitig die altbekannten Kalauer an den Kopf warfen, und er schlug sich auf die Schenkel vor Lachen, während sie es nur peinlich fand. Wenn es wenigstens ein bisschen Schauspiel gewesen wäre. Aber das ließen die Umstände gar nicht zu. Drei Ränge. Jeder nur zu einem Viertel besetzt. Die beiden auf der Bühne wussten gar nicht, wohin sie überhaupt spielen sollten. Außerdem hörten sie einander nur aus den überdimensionierten Lautsprechern in ihrem Rücken. Wie sollte da ein Dialog entstehen können? Da waren die Leute des Laientheaters, bei dem sie manchmal an der Kasse aushalf, zehnmal besser. Das hatte sie ihm dann eigentlich auch sagen wollen. Aber bei ihm hatten die Wortplänkeleien über das, was bei Frauen anders ist als bei Männern, offenbar eine bestimmte Art von Phantasien geweckt. Denn er fasste ihr, kaum, dass sie aus der Dusche getreten war, vom Toilettenbecken aus zwischen die Beine und versuchte ihr die Wassertropfen vom Hintern zu küssen, als sie nach dem Handtuch griff, obwohl sie ihm schon oft genug erklärt hatte, dass er mit solchen direkten Hinweisen bei ihr genau das Gegenteil von dem bewirkte, was er sich erhoffte. Aber weil sie nun einfach nicht auch noch genau so sein wollte, wie Frauen nach Meinung der beiden Schauspieler mit den Mikrofonen an der Backe immer waren, hatte dann auch sie ihre Phantasien mobilisiert. Phantasien allerdings, von denen er nichts ahnen durfte, ja, die sie sich eigentlich nicht einmal selbst einzugestehen wagte. Aber sie halfen ihr, mit dem Widerspruch zwischen dem, was er erhoffte und dem, was sie empfand, zurechtzukommen. Und außerdem war es ein bisschen so, als würde sie dadurch: „Und es ist doch Vollmond“, erklären. Was sie na-türlich auch lieber unterließ und ihm stattdessen mit beiden Händen über den Kopf strich, über seinen glatten runden Vollmondkopf. Liebte sie ihn doch trotz allem. Und dieses, ihm mit den Händen über den Kopf streichen, galt als Zeichen, dass er es gut gemacht hatte. In fünfundzwanzig Ehejahren hatte sich auch bei ihnen ein ganz eigenes Vokabular aus Worten und Zeichen entwickelt. Worte, die als Zeichen verstanden wurden und Zeichen, die man für Worte setzte, wenn man nicht wollte, dass sie das ihnen eigene Geheimnis verlören. Nur, dass sich im Laufe der Jahre auch die Möglichkeit des Missbrauchs dieses Vokabulars herausgebildet hatte. Wobei sie sich dann oftmals tiefer verletzt fühlte, als wenn das, was gemeint war, ausgesprochen worden wäre. Darüber hätte man reden können. Über einen falschen Unterton konnte man nicht reden. „Mausekind“, war zum Beispiel so ein Wort, bei dem sie nur hätte schreien können, wenn er es in bestimmten Zusammenhängen benutzte. Aber genau das vermochte sie nicht, denn „Mausekind“ hatte für sie etwas Heiliges.

Es war in ihrer ersten gemeinsamen Nacht gewesen, dass er sie „Mausekind“ genannt hatte. Eine Nacht in einer Strandburg an der Ostsee zwischen Ahrenshoop und Prerow, bei Vollmond und einem den Strand und die Wellen absuchenden Scheinwerfer. Eine Nacht, die, abgesehen von der Geburt ihrer beiden Kinder, zu den aufregendsten Abenteuern gehörte, die sie je erlebt hatte. Denn dort wo sie waren, hätte man eigentlich nicht sein dürfen, zur damaligen Zeit jedenfalls nicht. Und es hätte auch alles ganz schlimm ausgehen können. Denn als sie eben dabei gewesen waren, den Mond und den Scheinwerfer und sich selbst zu vergessen, kam eine Grenzstreife den Strand entlang gewandert und leuchtete mit einer Taschenlampe in jede Strandburg hinein. Wobei anzunehmen war, wenn sie nicht sofort aufsprangen und davonliefen, würden sie einander für mindestens zwei Jahre nicht mehr sehen können. Davonzulaufen aber war nicht möglich, weil der Scheinwerferstrahl gerade nicht mehr geschwenkt wurde, sondern still stand, mit seinem gleißenden Lichtkegel gerade über dem Strandabschnitt still stand, in dem sich die Strandburg befand, in der sie lagen.

„Alles wird gut, Mausekind“, hatte er da gesagt und sie hatte ihren Kopf unter seine rechte Achselhöhle gezogen, wo sie zitternd wartete, dass sie der Strahl der Taschenlampe erreichte und eine blecherne Stimme: „Aufstehen! Hände in den Nacken!“ belfern würde, wie sie das aus Filmen kannte.

Aber der Mann mit der Lampe schien wohl selbst schon einmal so eine Nacht bei Vollmond in einer Strandburg verbracht zu haben, oder träumte davon, oder sah einfach, dass sie kaum die Absicht haben könnten, sich bei günstiger Gelegenheit in die See zu stürzen, um schwimmend Schweden, Finnland oder die Insel Bornholm zu erreichen. Jedenfalls zischte er: „Keinen Mucks! Mein Postenführer pisst gerade. Und wenn ich weg bin, ab hinter die Düne.“

Und rief dann: „Alles o. B.“, ehe er zu dem Streifen von den Wellen auf den Sand geworfenen Seetangs zurückging, wo im wieder vorüber huschenden Scheinwerferstrahl eine zweite Gestalt zu erkennen war, die an ihren Hosen herumnestelte.

„Halt durch, Mausekind. Bitte halt durch! Ich bring dich über die Grenze und dann wird alles gut!“ hatte er auch neun Monate später gesagt, als sie, nun schon als Herr und Frau Meerbusch mit dem Trabant seiner Eltern nach Prag gefahren waren, wo es Mullwindeln geben sollte, und bei der Rückfahrt plötzlich die Wehen einsetzten. Zwei Wochen zu früh und mit einer Heftigkeit, dass sie meinte, jeden Augenblick aus dem Wagen springen und ihr Kind am Rand einer tschechischen Landstraße zur Welt bringen zu müssen. „Halt durch! Alles wird gut!“ Und er war dann auch gefahren wie ein Henker, sogar an der Schlange der vor dem Grenzkontrollpunkt wartenden Autos vorbei. Und der Grenzposten, der ihnen in den Weg sprang, verzichtete sogar auf alle nötigen Formalitäten, als er sie auf dem zurückgeklappten Beifahrersitz liegen sah. Und der auf der anderen Seite sagte: „Volles Licht und volles Rohr! Und wenn der Krankenwagen aus Pirna kommt, sofort rechts ran! Wir geben Bescheid.“

Es war aber dann kein Krankenwagen gekommen, weil den, wie sie später erfuhren, einer beim Überholen über die Ufermauer in die Elbe geschoben hatte. Weshalb schließlich überhaupt nichts mehr ging, weder vor noch zurück. Aber vor einem Haus an der Straße stand eine Frau, die aussah, als ob sie etwas von der Sache verstünde. Und die wusste ihn anzustellen und schnauzte ihn an, wenn er unter den Leiden, die ihm ihre Schmerzen verursachten, umzukippen drohte. Und als er dann neben ihr stand mit dem blauroten Püppchen auf dem Arm, sagte er: „Ach Mausekind, wie ich dich liebe!“

Das wollte sie nicht mit einem Geschrei kaputt machen. Also schwieg sie lieber, wenn er etwa mit einem leicht abwärts gezogenen rechten Mundwinkel: „Das wollen wir doch lieber mal auslassen, Mausekind“, sagte und dazu einen der dabei Anwesenden anblickte, ob der auch mitbekam, dass er sie für nicht ganz richtig im Kopf ansah.


     
     
zurück