Nicht gucken
Geschichten vom Essen, Trinken und (den) anderen schönen Dingen
     


Nein, Andreas Bleibtreu hatte wirklich nicht geguckt. Nicht, als die Frau ihre Hände um seinen Nacken legte, nicht, als sie ihre Füße auf seine Oberschenkel setzte, nicht, als sie die Knie durchdrückte und er, um sie zu stützen, nach ihren Waden fasste, nicht, als sie auf seine Schultern kletterte, nicht, als er die Wärme ihrer Fußsohlen auf seinen empor gereckten Handflächen spürte und er sie dann über den Kopf hinaus stemmte, dass sie auf das Dach des Carports gelangen konnte, und auch nicht, als er sie von dort her: „Ja, ich komm! Ich komm! Alicia kommt!“, rufen hörte und abzusehen war, dass sie nun über den Sims des Fensters in das Zimmer klettern würde, aus dem ein jämmerliches Babygeschrei zu hören war. Ja er hatte nicht einmal den Kopf gehoben und nach oben geblickt, als sich das Geschrei zu einem greinenden Wimmern gewandelt hatte, um mit einer abwinkenden Geste antworten zu können, falls sie nun mit dem Kind auf dem Arm am Fenster erscheinen würde, um sich für seine Hilfe zu bedanken. - „Schon gut, schon gut! War doch selbstverständlich.“ - Er hatte sich nur noch vergewissert, dass das aufrecht zu transportierende knallgelbe Zwanzigkilopaket, das er vom Gartentor bis zur Haustür geschleppt und dort gegen die Wand gelehnt hatte, sicher genug stand, um nicht infolge einer ungeschickten Berührung oder eines unerwarteten Luftzuges umkippen zu können, und war dann zu seinem Transporter zurückgegangen, froh, dass das durch einen genau solchen Luftzug hervorgerufene Problem auf so einfache Weise zu lösen gewesen war, und froh auch, dass er wirklich die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten und nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde geguckt hatte. Denn nichts schien ihm im Augenblick weniger wünschenswert, als sich noch einmal von seinem Helfersyndrom in eine Beziehung locken zu lassen, bei der sich am Ende herausstellte, dass er vor allem als Blitzableiter für die Spätfolgen traumatischer Kindheitserlebnisse gebraucht wurde. - Missbrauch, Verlassensängste, Borderline. - Vier solcher Verirrungen hatte er schon hinter sich und alle vier hatten damit begonnen, dass ihn ein Blick traf, aus dem die Angst flimmerte, es könne jeden Augenblick die Welt untergehen, und er sich dann zu der Vorstellung verleiten ließ, dass er genau der Richtige sei, das verhindern zu können. Folgten sieben bis acht Monate höchster Glückseligkeit und dann begannen sie am Zeiger zu drehen. - Immer wieder sich bis zu Schreikrämpfen aufschaukelnde Streits um Nichtigkeiten, Eifersucht mit ätzenden Vorwürfen, der Wechsel von wochenlang andauernden Phasen körperlicher Verweigerung zu beinahe exzesshafter sexueller Unersättlichkeit, panische Angst, das Haus zu verlassen, Suizidversuche. Und bis er dann endlich die Kraft fand: „Schluss, aus“, zu sagen, oder sich das Problem auf andere Weise löste, hatte er wieder einmal die an seinem achtzehnten Geburtstag vollmundig abgegebene Erklärung, bis zum fünfundzwanzigsten alle fünf Kontinente mit dem Fahrrad bereist zu haben, um zwei oder drei Jahre in Richtung des dreißigsten hinausschieben müssen. Doch noch ehe er dann in der Lage war, diesen Vorsatz endlich realisieren zu können, schmiegte sich schon wieder ein von Tränen und Wimperntusche schwarz verschmiertes Gesicht vertrauensvoll an seine Schulter und seine Fingerspitzen zeichneten auf der glatten Haut eines Rückens lustvoll Kreuze und Kreise. Achtundzwanzig war er darüber inzwischen geworden und sah nun seinen dreißigsten Geburtstag als den wirklich allerletzten Termin an. Weshalb er spätestens bis zum neunundzwanzigsten auf Neuseeland gelandet sein wollte. Deshalb auch die geradezu widernatürliche Konsequenz, mit der er der Verlockung widerstanden hatte, die Augen wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde zu öffnen. Hatten ihn doch schon die auf dem Adressetikett des Pakets verzeichneten Angaben zu höchster Wachsamkeit veranlasst. - Alicia Klopffleisch, Groß Jammern, Ausbau Nr. 1. - Seine vorletzte Beziehung hatte Berenike Kaulfuß geheißen, eine Namenskombination, mit der ihre Eltern offenbar gemeint hatten, ihrem Kind das Gefühl vermitteln zu können, etwas Besonderes zu sein. Was allerdings das genaue Gegenteil zur Folge gehabt hatte. Sie war mit einem geradezu beängstigenden Mangel an Selbstbewusstsein und Entschlusskraft geschlagen. Schon die Frage, ob ein beim Servieren des Mittagessens vom Teller auf den Küchenfußboden gerutschtes Staek einfach nur aufzuheben, abzuspülen, noch einmal in die Pfanne zurück oder lieber doch gleich der Katze zu geben sei, konnte zu einem minutenlangen tatenlos zu Boden starren führen. Aber wenn er sich dann kurzentschlossen gebückt und es auf seinen Teller gelegt hatte, nahm sie es von dort wieder weg und legte es auf ihren Teller. Woraus nicht selten ein Streit entstand, der mit einem wochenlangen Zuwendungsentzug oder nicht enden wollenden Vorwürfen über seine angebliche Sucht führte, sie ständig demütigen zu müssen. Denn selbstverständlich hatte sie genau das vorgehabt, das Steak vom Boden auf ihren Teller. Aber er musste ihr eben immer unter die Nase reiben, dass sie sich nicht entscheiden könne. Da durfte unter dem Namen Alicia Klopffleisch kaum etwas anderes zu erwarten sein.

Eine Annahme, die sich zu bestätigen schien, als er ihr nach einem kurzen Blickwechsel den Signierstift zum Quittieren des Empfangs der Sendung zureichte und sie keine Lösung für das damit verbundene Problem sah. Denn der Bademantel, in dem sie nach dem dritten Klingeln in der Haustür erschienen war, hatte keinen Gürtel, weshalb sie ihn mit den Händen zusammenhalten musste. ...



     
     
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