Miriam war
elf und wusste nichts. Nun gut, dass Jungs zwischen den Beinen anders
aussahen, als Mädchen, das war ihr schon irgendwie klar. Geriet ihr
doch dieses “Anders“ jedes Mal vor die Augen, wenn sie mit
ihrem Vater in der Sauna saß. Und der war schließlich auch
einmal ein Junge gewesen. Und dass das „Anders“ ihrer Mutter,
als sie noch ein Mädchen war, etwa so ausgesehen haben musste, wie
ihr eigenes „Anders“ aussah, war entsprechend logisch. Warum
das aber so war und wozu das gut sein sollte, darüber hatte sie sich
noch keine Gedanken gemacht. Es interessierte sie einfach nicht.
Seit ihre Mutter von einer Reise nach Indien nicht zurückgekehrt
war, gab es für sie wichtigere Fragen. Waren doch einige der Dinge,
um die sich bis dahin die Mutter gekümmert hatte, nach und nach zu
Dingen geworden, um die sie sich zu kümmern hatte. Die Ziegen, der
Hund, die Hühner, Kochen und Kehren und Wischen. Dazu noch die Schule,
und immer wieder die verletzten oder verloren gegangenen Tiere. Ihr Vater
war Vogelschutzbeauftragter. Und wenn irgendwo ein Kätzchen am Wegesrand
saß und miaute oder ein Vogeljunges aus dem Nest gefallen war, brachten
es die Leute zu ihm. Außerdem hielt er Vorträge in Nah und
Fern und brachte von seinen Reisen Leute mit oder lud sie ein, ihn einmal
zu besuchen, in seinem einsamen Haus am See, „wo die Natur noch
ihr Recht hat“, wie er immer sagte. Und dann musste es Kartoffeln
mit Ziegenquark geben oder Karpfen im Salzmantel, auch damit nicht bemerkt
wurde, dass er vergessen hatte, woher er diese Leute kannte und wer sie
waren.
„Meine Tochter ist ein Geschenk des Himmels“, schwärmte
er dann immer. „Vor allem wenn sie kocht, dann grenzt das schon
an Zauberei. Aber wehe, es trampelt ihr einer in der Küche vor den
Füßen herum, dann kann sie zum Teufel werden.“
Für Gedanken über die Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen
oder Männer und Frauen blieb da keine Zeit. Und da es auch keinen
Fernseher gab, gab es auch keine Bilder, die sie mit der Nase auf Probleme
dieser Art gestoßen hätten.
Dann aber fuhr eines Tages eine Frau mit einem Jungen im Auto vor und
die sagte: „Einen richtigen Dorfbums wollte ich schon immer einmal
erleben und ihr werdet schon wissen, was ihr miteinander anfangen könnt“,
ehe sie auf das Fahrrad der Mutter stieg und dem Vater voraus über
den Bahnübergang in Richtung Dorf radelte.
Sie sei eine Journalistin, hatte der Vater dazu erklärt, und wolle
eine Reportage über die rastenden Singschwäne schreiben, weshalb
sie einige Tage bleibe. Der Junge aber müsse schon am Sonntagabend
wieder zum Zug. Er sei Schüler an einem Gymnasium für Hochbegabte
und müsse rechtzeitig vor der Nachtruhe im Internat sein. „Kannst
ihm ja zeigen, wie du die Karpfen überlistest und dann machst du
uns morgen deinen unvergleichlichen Karpfen im Salzmantel.“
Sie aber fand den Jungen ausgesprochen doof. Er war dreizehn Jahre alt,
guckte, als gäbe es nichts Langweiligeres als ein einsames Haus am
See mit Ziegen und Hühnern und einem Hund mit Ohren wie ein Waschbärbaby.
Außerdem spuckte er alle zwei Minuten verächtlich nach rechts
oder links, hatte Pickel auf der Stirn und hieß dazu noch Guido.
Dem würde sie jedenfalls nicht zeigen, wie es ihr gelang, innerhalb
von zehn Minuten zwei Karpfen auf den Bootssteg zu legen. Und kochen würde
sie auch nichts, gleich gar nicht einen Karpfen im Salzmantel. Im Gegenteil,
sie würde alles dafür tun, dass er sich nichts sehnlicher wünschte,
als dass es endlich Sonntagabend werde und dann nie, nie wieder käme,
samt seiner Mutter, von der sie sich schon denken konnte, dass die etwas
ganz anders interessierte, als die rastenden Singschwäne. In die
Sauna würde sie ihn locken und die Regelung auf hundert Grad einstellen,
damit sich bei ihm das Blut im Kopf staute bis er umkippte. Und dann würde
sie einen Eimer kaltes Wasser über ihm ausleeren und dazu auf solche
Weise lachen, dass ihm jegliche Lust verginge, jemals wieder kommen zu
wollen.
Also sagte sie, als seine Mutter und ihr Vater den Bahnübergang passiert
hatten und noch einmal winkten: „Eigentlich wäre heute Saunatag
gewesen.“
„Saunatag?“, wurde daraufhin gefragt. Und sie antwortete:
„Ja, am Freitagabend gehen wir immer in die Sauna. – Das ist
Gesetz.“ Und dann nahm sie eine Hand voll Kies auf und schleuderte
sie in Richtung der Hühnervoliere, dass dort ein erschrecktes Gegacker
und Gerenne ausbrach und der Hund zwei warnende Beller hören ließ.
„Habt ihr denn eine Sauna?“
„Na, klar. Unten am See, extra so, dass man gleich rein springen
kann. Es gibt nichts Schöneres.“
„Und alleine darfst du nicht?“
„Ich darf alles.“
„Na, Sauna, das würde mich vielleicht auch interessieren.“
„Denkst du, du verträgst das?“
Und es folgte das verächtliche zur Seite Spucken, mit dem sie gerechnet
hatte.
„Hundert Grad?“
Und noch einmal das Spucken als Antwort.
Und immer noch nicht dachte sie dabei an diese Unterschiede zwischen Jungs
und Mädchen, und dass sie zwangsläufig dieses „Andere“
bei ihm und er dieses „Andere“ bei ihr sehen würde, und
dass das irgendein Problem sein könne. Sie stellte sich nur vor,
wie sie lachen würde, wenn er von der Bank gekippt war und sie den
Eimer Wasser über ihm ausleerte. Und so zog sie sich aus im Vorraum,
als das Thermometer auf neunzig Grad geklettert war und schlüpfte
in die Kabine und setzte sich auf die oberste Bank.
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