Schraps hat den Hut verloren
Geschichten vom Essen, Trinken und anderen schönen Dingen
     

 

Schraps hat den Hut verloren

Wenn ich es recht bedenke, war eigentlich alles von Konstanze ausgegangen. Sie war es, die uns zum Frühstück einlud. Sie war es, die vorschlug, gemeinsam auf die andere Seite der Berge zu fahren, wo es, wie sie erfahren haben wollte, die besten Halusky der ganzen Slowakei geben solle. Sie war es, die dann unbedingt noch auf den Chopok steigen wollte. Und sie war es dann auch, die: „Schraps hat den Hut verloren“, sagte. Fabian hatte sich zunächst wohl einfach nur gefreut, uns seinen BMW x1 vorführen zu können. Und dann, als wir uns auszogen und nackt im Regen umher sprangen, dürfte er hauptsächlich froh gewesen sein, endlich seine ihn so peinigenden Boxershorts vom Leib zu bekommen. Ich selbst machte nur mit, wie ich überhaupt meistens immer nur mitmache. Und Anke schien mir an diesem Tag ohnehin wieder einmal ein ganzes Stück neben sich zu stehen.
Zweifellos aber dürften die beiden Tetrapacks mit Rotwein eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, die wir im Besenschrank der Berghütte fanden, als uns klar geworden war, dass wir dort vor dem Morgen nicht mehr wegkommen würden, und die Frauen sich entschlossen, die Bedingungen dafür wenigstens ein bisschen an diesen Umstand anzupassen. Ein wirklich übles Zeug, süß, dass einem die Zunge am Gaumen kleben zu bleiben schien, wenn man einen Schluck davon zu sich genommen hatte. Zumal das nur mithilfe eines Trinkröhrchens zu bewerkstelligen war, das wir in der Schublade des Tischs gefunden hatten, der sich neben einem kleinen Kanonenofen, drei Stühlen und einer hölzernen Bank in dem etwa drei mal drei Meter großen Raum befand, in den man gelangte, wenn man einen mit Schindeln bedeckten, nach allen Seiten offenen Vorbau passiert hatte. Dahinter gab es dann nur noch einen Verschlag mit eben diesem Besenschrank und einer Stiege, die zu einem ebenfalls drei mal drei Meter messenden Raum im Obergeschoss führte, der komplett mit nicht sehr einladend aussehenden Matratzen ausgelegt war, und wo sich in einer Ecke auch ein Stapel alter Decken türmte. Gläser gab es nicht und auch nichts anderes, was sich für eine kultiviertere Art Wein zu trinken geeignet hätte. Da hatte irgendwer vor uns offenbar andere Vorstellungen von den Bedingungen für das Übernachten in einsamen Berghütten gehabt. Denn alles, was man irgendwie als Trinkgefäß hätte nutzen können, lag in Scherben am Boden. Nur die Tetrapacks mit dem Wein waren von dieser Zerstörungswut verschont geblieben. Entweder waren sie einfach nur übersehen worden, oder die Tassen- und Tellerzertrümmerer hatten genug davon gehabt oder besseres vielleicht. Und auch wir hatten uns zunächst nicht entschließen können, sie zu öffnen. Aber als Konstanze dann das Trinkröhrchen gefunden hatte und Anke bestätigte, dass die Deckel wirklich noch original verschlossen seien, sagte Fabian: „In der Not frisst der Teufel Fliegen.“
Und wir waren zweifellos in Not.
Eine kleine Tour zur Einstimmung, hatten wir gedacht. Mit dem Auto bis zum Hotel Druzba, dann mit der Seilbahn bis Brhliska hinauf, von dort eine halbe Stunde zu Fuß bis Lukowa, und von da mit dem Sessellift wieder abwärts. Dann aber sagte Konstanze: „Also wenn wir jetzt schon einmal hier oben sind, könnten wir eigentlich auch noch auf den Chopok steigen. Das ist nicht mehr als eine Stunde. Und von dort kommen wir genauso mit dem Lift wieder nach unten.“
Und weil auch Anke guckte, als ob ihr das recht wäre, hatten wir zugestimmt, obwohl Fabian schon öfters kurz stehen geblieben war, um seine Unterhose zu richten, die sich immer wieder in seiner Gesäßfalte verklemmte. Und auch mir wäre es eigentlich lieber gewesen, wenn wir auf diesen zusätzlichen Aufstieg verzichtet hätten. Ich hatte gedacht, bei Temperaturen um dreißig Grad zwängst du deine Füße nicht in die Trassentreter. Da kriegst du Schwimmhäute zwischen den Zehen. Und Anke konnte schon aus geringeren Anlässen: „Du stinkst“, sagen. Was dann allerdings nicht als: „Wasch dir die Füße!“ zu verstehen war, sondern als: „Bleib mir vom Leib!“
Dieser Tag aber war unser zweiter Urlaubstag. Und bis einen Tag vor der Abreise hatte sie noch mit ihren „Wehdewehchen“ zu tun gehabt, wie sie das nannte. Und als wir am Vortag nach neun Stunden Fahrt einschließlich fünf Stunden Stau noch kurz vor Mitternacht von den Vermietern die Schlüssel für das Ferienhaus bekommen hatten, hatte sie gesagte: „Aber nicht, dass du heute noch auf irgendwelche Ideen kommst. Ich bin wirklich rechtschaffen müde.“
Was sagen soll, mir war sehr daran gelegen, ihr keinen Anlass für ein missmutiges Emporziehen der Augenbrauen zu bieten, wenn ich mich am Abend vor das Bett knien und wie ein Hündchen winseln würde. Denn wenn sie einmal die Augenbrauen emporgezogen hatte, dann blieben die emporgezogen. Da konnte ich mir noch so viele von den Spielchen einfallen lassen, mit denen ich sie sonst in die nötige Stimmung brachte. „Du stinkst“ und Punkt, und: „Geh mir vom Leib!“, gnadenlos. Und obwohl wir nun schon das dritte Jahr verheiratet waren und wir ansonsten kaum Probleme miteinander hatten, hatte ich immer noch nicht herausfinden können, womit das zusammenhing.
Am besten war es jedenfalls, ich bot ihr keinen Anlass.
Also hatte ich statt der Trassentreter Sandalen angezogen. Aber in diesen waren mir inzwischen statt Schwimmhäuten zwischen den Zehen Ballons an den Hacken gewachsen. Außerdem rutschten mir immer wieder einmal winzige scharfkantige Kiesel zwischen Fuß und Sohle und die ließen sich auch nicht nur mit einem kurzen Schütteln des Fußes entfernen. Weshalb ich öfters einmal stehen bleiben musste, um die Sandalenriemen zu lösen und wieder zuzubinden. Und danach einen die Lunge zum Keuchen bringenden Sprint einlegen musste, um wieder zu den Frauen aufschließen zu können. Denn die schwebten geradezu wie die Elfen bergan. Manchmal sogar Hand in Hand und ununterbrochen schnatternd und kichernd. Fabian muss von ähnlichen Problemen geplagt gewesen sein. Denn auch er gebärdete sich wie ein übermütiges Füllen, wenn er sich wieder einmal zurückfallen lassen hatte, um seine Unterhose zu richten und dann gleich für hundert Meter voraus sprintete. Wobei er allerdings manchmal: „Was tut man nicht alles wegen der Triebe“, sagte, wenn er bei mir einen Zwischenstopp einlegte, oder mir gestand, dass er Boxershorts und Retros eigentlich hasse aber Konstanze Männer mit Sportslips als „Penisprotzer“ ansah, die von den Mängeln in den oberen Hemisphären ihres Körpers ablenken wollten. Mängel in diesen Bereichen aber, seien für sie noch indiskutabler.
Und als wir nach einer Stunde unentwegten bergauf Steigens die Baumgrenze erreicht hatten und wir Männer uns bewusst etwas zurück fallen ließen, um uns noch einmal an einen Baum stellen zu können, sagte er: „Wir hätten ihnen nach den Haluski einfach noch eine Portion von diesen Buchteln bestellen sollen und uns einen Borovicka.“
Die Frauen aber schwebten, als mache ihnen die Kraxelei überhaupt nichts aus. Und, dass es bald schon nicht einmal mehr Büsche gab, hinter die sie schnell mal hätten huschen können, focht sie auch nicht an. Sie riefen einfach: „Bleibt jetzt mal stehen und dreht euch um!“ Und wir drehten uns auch folgsam um. Und als uns das dann alles ein bisschen zu lange zu dauern schien, waren sie schon wieder fünfzig Meter voraus und kicherten.

     
     
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